Das Maedchen am Klavier
vielleicht wieder angefangen, von Robert Schumann zu träumen. Irgendwann einmal, dachte Friedrich Wieck, irgendwann in ihrer Kindheit musste ihr das Schicksal eine Prägung aufgedrückt haben, die sie in Robert Schumann das ganz Besondere sehen ließ, den idealen Mann vielleicht sogar. Dieses Seelenmal musste gelöscht werden. Gelöscht durch unzählige andere Eindrücke, erfreuliche Erlebnisse, Erfolge und schließlich durch die Erkenntnis, dass der Kindheit die Weisheit gefehlt hatte und die Einsicht in das, was nützlich war.
Fünf Monate Tournee. Im April 1835 kehrte Clara nach Leipzig zurück, müde von den vielen Eindrücken, die täglich auf sie eingestürmt waren, ein wenig überdreht und nervös, aber eigentlich auch glücklich. Ja, glücklich: weil die Tournee erfolgreich gewesen war und vor allem weil sie sich endlich erwachsen fühlte. Erwachsen und jung zugleich. So jung und so stark. Manchmal wachte sie schon am Morgen mit einem Lächeln auf und spürte eine ungeheure Kraft in sich. Die Welt gehört mir!, dachte sie und sprang aus dem Bett, weil sie es so eilig hatte, sie wusste selbst nicht, warum.
Man hatte sie bewundert und verehrt. Man hatte ihr Komplimente gemacht und ihr zu verstehen gegeben, dass sie ein schönes Mädchen war, begehrenswert – nicht nur als Künstlerin. Welche Grenzen konnte es da für sie noch geben? Obwohl die Koffer kaum ausgepackt waren, redete Friedrich Wieck bereits wieder von Konzerten in Wien, womöglich sogar am kaiserlichen Hof wie einst der kleine Mozart. Doch Clara war nichtmehr klein. Sie war fünfzehn Jahre alt, bald sechzehn. Intensiv gelebte Jahre, die doppelt zählten, in mancher Hinsicht vielleicht sogar dreifach. Der Applaus der vergangenen Monate hatte sie selbstbewusst gemacht. Sie hatte keine Angst mehr, sich dem Vergleich mit den ganz Großen zu stellen. Mendelssohn, Liszt, Chopin – von jetzt an würde keiner mehr an ihr vorbeigehen, ohne sie zu bemerken. Clara Wieck war ein Name, den sie inzwischen alle kannten.
So wunderte sie sich kaum, dass ihr Frédéric Chopin auf einer Durchreise einen Besuch abstattete und sogar eine Stunde lang auf sie wartete, weil sie gerade nicht zu Hause war. Als sie heimkam, sah sie mit Verwunderung eine elegante schwarze Kutsche vor dem Haus stehen.
Clementine stürzte ihr aufgeregt entgegen. Ein ausländischer Herr warte im Salon auf sie und behaupte, sein Name sei Chopin. Irgendwie glaube sie ihm nicht ganz. »Er sieht sehr vornehm aus«, sagte sie achselzuckend. »Aber dass er der berühmte Chopin sein soll ...«
Clara zögerte kurz, dann raffte sie ihre Röcke zusammen und lief ins Haus, die Augen glänzend und die Wangen von ihrem Spaziergang gerötet. Als sie in den Salon trat, stand Chopin am Fenster und blickte hinaus. Er wandte sich langsam um und kam Clara entgegen. Galant küsste er ihr die Hand und versicherte ihr, sie sei so anmutig, wie er erwartet habe.
Als Erstes fiel ihr an ihm auf, dass er kleiner war als sie selbst. Sie trat einen Schritt zurück, um es ihn nicht spüren zu lassen. Er aber durchschaute sie und lächelte. Erst jetzt fing ihr Herz zu klopfen an. Frédéric Chopin, allein mit ihr in dem einfachen Salon ihres Elternhauses! Friedrich Wieck wurde erst am Abend zurückerwartet, und Clementine hätte nie gewagt, sich zu ihnen zu gesellen. Clara dachte erleichtert, wie gut es war, dass sie während der Tournee eine französische Komödie gelesen hatte. Nach dieser Übung fiel es ihr leicht, sich auf die bevorzugte Sprache ihres Gastes einzustellen.
Auch Frédéric Chopin schien sich wohl zu fühlen. Er regte an, zur »internationalen Sprache der Musik« überzugehen, woraufhin ihm Clara aus ihren jüngsten Werken vorspielte und zuletzt – welch ein Mut und welch ein Vertrauen, dass er sie verstehen würde! – ihr noch unveröffentlichtes »Konzert für Klavier und Orchester in a-Moll«, an dem sie mit vielen Unterbrechungen bereits seit drei Jahren arbeitete. Ihre erste Orchesterarbeit! Manchmal war sie daran fast verzweifelt, sodass sie immer wieder schwor, sich nie wieder auf eine solche Komposition einzulassen. Doch nun war sie fertiggestellt, und Chopin hörte aufmerksam zu, den Kopf gesenkt, als bete er. Nachdem der letzte Ton verklungen war, schwieg er lange. Clara wartete, wie auf das Urteil eines Richters. Die Stille im Raum raubte ihr den Atem.
Dann hob Chopin den Kopf und sah sie an. Langsam nickte er ihr zu und lächelte. Kein Applaus von tausend Händen hätte ihr Herz
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