Das Maedchen am Klavier
vielleicht ein wenig darüber nachdenken. »In manchem sind wir uns alle sehr ähnlich«, fügte er hinzu. »Da tut es gut, zu wissen, dass manche Schwierigkeiten für alle gelten.«
»Diesen Geburtstag werde ich nie vergessen«, sagte Clara leise, als sie mit Friedrich Wieck vor dem Haustor stand und den Gästen nachblickte, die scherzend und lachend nach Hause gingen, angeregt vom Champagner und von den fröhlichen Stunden, die man gemeinsam verbracht hatte.
»Lass uns das Gedicht lesen!«, schlug Friedrich Wieck vor. Sie gingen zurück in den Salon, der noch immer von der Unbeschwertheit des vergangenen Tages erfüllt schien. Sie setzten sich nebeneinander auf das Sofa und Clara faltete den Zettel auseinander.
»Lass hören!«, forderte Friedrich Wieck sie auf.
Clara nickte und begann zu lesen.
»Schreibt der Komponiste ernst,
schläfert er uns ein;
schreibt der Komponiste froh,
ist er zu gemein.
Schreibt der Komponiste lang,
ist es zum Erbarmen;
schreibt ein Komponiste kurz,
kann man nicht erwarmen.
Schreibt ein Komponiste klar,
ist’s ein armer Tropf;
schreibt ein Komponiste tief,
rappelt’s ihm im Kopf.
Schreib er also, wie er will,
keinem steht es an,
darum schreib ein Komponist,
wie er will und kann!«
Unwillkürlich lächelten sie beide. »Das sieht ihm ähnlich«, murmelte Friedrich Wieck und legte den Arm um Claras Schultern. »Ich muss oft über ihn nachdenken«, gestand er.
Clara lachte. »Das tun viele«, antwortete sie. »Vor allem die Damen.«
Doch ihr Vater ging nicht auf ihren scherzhaften Ton ein. »Ich habe mir mein Leben lang ein Vorbild gewünscht«, sagte er leise. Zum ersten Mal, dachte Clara, klang seine Stimme nicht schrill und durchdringend, sondern fast hilflos und verzagt. »In der Schule und während des Studiums trug man uns auf, Christus solle unser Vorbild sein.« Er schüttelte den Kopf. »Damals wäre ich gern Musiker geworden. Man ist ja ein gläubiger Mensch, aber die Nachfolge Christi hätte mich da bestimmt nicht weitergebracht. Außerdem suchte ich ja nicht nach einem spirituellen Vorbild, sondern nach einem handfesten Muster.«
Clara rückte näher an ihn heran. Nachsichtig dachte sie, dass er wahrscheinlich zu viel vom Geburtstagschampagner abbekommen hatte. Trotzdem tat es ihr wohl, dass er sich ernsthaft mit ihr unterhielt.
»Immer wieder habe ich mir Vorbilder gesucht«, fuhr Friedrich Wieck fort. »Einmal diesen, dann jenen, wie es gerade in meine Lebenssituation passte. Wenn ich es mir heute überlege, hat mich dabei immer nur ein einziger Gesichtspunkt fasziniert: das Ansehen, das die Betreffenden genossen – für das, was sie taten, und für das, was sie darstellten.« Seine Stimme war noch leiser geworden. Clara hatte das Gefühl, dass er eigentlich nicht mehr zu ihr sprach, sondern zu sich selbst.
»Ansehen, Respekt, Hochachtung, vielleicht sogar Bewunderung oder Liebe – alle, die mir auffielen, zeichneten sich vor allem durch das aus, was sie vollbrachten: wie sie die Gebildeten ihrer Stadt um sich scharten, wie sie für eine neue Idee eintraten, wie sie mit ihrem Geigenspiel Hunderte Menschen eroberten ...« Er wandte sein Gesicht Clara zu und klopfte gleichzeitig auf Felix Mendelssohns kleines Manuskript. »Nur dieser da ist eine Ausnahme. Er kann eigentlich kein Vorbild für andere sein. In seiner Arbeit natürlich schon. Die respektieren alle. Davon abgesehen aber ist etwas um ihn, das sich nicht erarbeiten und erlernen lässt. Ein Charme, eine Magie vielleicht sogar. Käme er in eine ganz fremde Runde, in der niemand von seinen Verdiensten weiß, würde man ihn trotzdem sofort achten und mit Sympathie empfangen.«
Clara schwieg. Die Standuhr schlug eins, und oben, im ersten Stock, hustete erst ein Kind und dann auch das zweite.
»Wie schön wäre es, sich nicht dauernd bemühen und um Ansehen kämpfen zu müssen!«, redete Friedrich Wieck weiter. »Manchmal bin ich es so leid! Aber wenn wir aufgeben, werden wir vergessen. Das gilt für alle von uns. Auch für dich sechzehnjähriges Geburtstagskind, das meint, die Welt läge ihm zu Füßen. Es gilt übrigens auch für den großen Herrn Schwärmerer und Fantasiemenschen, der dich heute wieder einmal mit denAugen verschlungen hat. Auch ihm fällt die Liebe der Welt nicht zu, so sehr er es sich auch wünschen mag.« Er zog Clara noch näher an sich heran. »Vergiss es nie, mein Clärchen: Du bist eine große Künstlerin. Aber auch dich wird man fallen lassen und missachten, wenn du
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