Das Maedchen am Klavier
Stück größer als sie und von hagerer Gestalt. Wie Paganini, das Vorbild seiner Jugend, war er ganz in Schwarz gekleidet. Seine glatten dunklen Haare reichten beinahe bis auf die Schultern. Immer wieder strich er sie hinter die Ohren, doch immer wieder fielen sie nach vorn, ungezähmt wie er selbst, wenn er am Klavier saß.
Clara erschrak fast, als sie ihn zum ersten Mal spielen hörte. Hörte und sah, denn nicht nur mit seiner Musik zog er die Menschen in seinen Bann, sondern auch mit seinen Bewegungen, am Anfang so gemessen und elegant, wenn er die weißen Handschuhe abgestreift hatte und die Hände niedersinken ließ, um dann plötzlich über die Tasten herzufallen, so wild und ungezügelt, dass das Publikum aufstöhnte und nicht einmal merkte, dass es im Rhythmus mitstampfte.
Bei einem Konzertstück von Weber sprengte er schon zu Beginn drei Messingsaiten. Trotzdem spielte er weiter und nichts schien zu fehlen. Im Gegenteil: Alles war eher zu viel. Neben ihm kam sich Clara vor wie ein feines Dresdner Fräulein: hübsch, gefällig und unbedeutend. Ein großes Talent vielleicht – doch dieser Mann, der sie mehrmals zu Hause besuchte und sie bezaubernd lobte, war ein Genie. Es tröstete sie fast, dass ihr seine Kompositionen nicht gefielen, während er ihre Fantasiestücke vom Blatt spielte und sie »eines der größten Werke, die ich kenne« nannte. Als Clara ihm ihre Interpretation von Robert Schumanns »Carnaval« präsentierte, küsste er ihre Hand und versprach, das Werk in sein Repertoire aufzunehmen.
Die Wiener behandelten Clara noch immer wie eine große Künstlerin. Nach wie vor war sie »ein Liebling«. Doch Franz Liszt trugen sie auf den Schultern zu seiner Kutsche, und jeder wusste Anekdoten, in denen sein Briefstil gerühmt wurde, seine Kenntnisse von Kunst und Literatur, sein Politikverständnis und sein Charme. Ja, vor allem sein Charme, dem kaum jemand – Mann oder Frau – widerstand. Ernsthaftigkeit und ein bezauberndes Wesen – er sei zugleich Don Juan und Franziskaner, sagte man, zugleich Zigeuner und Philosoph. Clara stockte der Atem, wenn sie sich mit ihm verglich.
»Mach dir nicht so viele Gedanken!«, tröstete Friedrich Wieck seine Tochter, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, sie noch lange spüren zu lassen, dass er ihr das Verhalten dem Fürsten gegenüber nicht verzeihen konnte. »Liszt ist ein begnadeter Pianist und du bist eine begnadete Pianistin. Frauen sind eben anders als Männer. Niemand möchte eine Frau sehen, die jeden Abend mehrere Klaviere zertrümmert. Deine Stärke liegt anderswo.«
»Aber ich gelte doch auch nicht gerade als sanft und melancholisch«, wandte Clara ein.
»Geht es ums Temperament oder um Kunst?« Friedrich Wieck ärgerte sich, dass er sich auf das Gespräch eingelassen hatte. »Dieser Mann ist zwölf Jahre älter als du. Zwölf Jahre mehrLeben, zwölf Jahre mehr Erfahrung. In zwölf Jahren wirst auch du nicht mehr die Gleiche sein wie jetzt.«
Clara schwieg. Es tröstete sie, dass man ihr Haus noch immer mit Blumen füllte, dass ihre Courmacher nicht aufhörten, sie zu umschwärmen, und dass man sie zum Abschied sogar zum Ehrenmitglied der Wiener Musikfreunde ernannte – ohne jede Protektion und schon wieder über den Kopf des mächtigen Sedlnitzky hinweg. Friedrich Wieck musste sich für die Rückreise eine größere Geldkassette kaufen, und die Zeitungen rühmten Claras Namen und nannten ihre Wiener Konzerte Sternstunden der Kunst. Der Aufenthalt in Wien war letzten Endes doch ein Triumph gewesen.
Teil Vier
Welt ohne Vater
Scherzo
1
Am 15. Mai 1838 kehrten Clara und ihr Vater nach Leipzig zurück. Sieben Monate waren sie fort gewesen – so gut wie nie voneinander getrennt. Eine drangvolle Nähe, die ihnen aber bei früheren Tourneen nichts ausgemacht hatte. Doch damals hatten sie noch an einem Strang gezogen. Erfolg wollten sie. Gemeinsame Triumphe in einer Symbiose zwischen Vater und Tochter, die keinen Dritten brauchte und auch nicht zuließ. Doch nun gab es ihn, diesen Dritten, und wenn Clara ihre Korrespondenz auch geheimhielt, so spürte ihr Vater doch, dass die junge Frau, für die er lebte, nicht mehr sein Clärchen war, das keinen Einsatz scheute, bereitwillig jeden Verzicht leistete und dem er rückhaltlos vertrauen konnte. Doch Friedrich Wieck war entschlossen, um seine Tochter zu kämpfen und um sein Lebenswerk.
»Du glaubst doch nicht, dass ich alles, wofür ich mich aufgeopfert habe, an diesen Schwächling
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