Das Maedchen am Klavier
ahnen ließ, sah Clara im Zwielicht, dass ihr Vater weinte. Sie dachte, dass sie ihn jetzt über seinen Irrtum aufklären müsste, aber dann konnte sie es nicht. »Mein lieber Papa!«, murmelte sie und lehnte sich an ihn. Da lachte er leise auf und blickte gerührt auf sie hinunter. »Mein Clärchen!«, flüsterte er und hielt das Mitleid auf ihrem Gesicht wohl für ein Zeichen, dass sie von ihrem eigenen Glück überwältigt war.
Sie erreichten die Hofburg. Man führte sie über breite Treppen und durch lange Korridore. Immer wieder streichelte Friedrich Wieck Claras Hand. Sein Gesicht strahlte vor Stolz und Freude. So unscheinbar war er in seiner Jugend gewesen, der magere kleine Fritze aus Pretzsch, dem keiner etwas zutraute und der so gern im Thomanerchor gesungen hätte, wäre er nicht schon nach einem einzigen Lied heiser geworden. Immer wieder war er abgewiesen worden, wo auch immer er sein Glück versuchte. Nie aber hatte er aufgegeben und jetzt sollte er vor den Kaiser hintreten, dessen Vorfahren ein Reich regiert hatten, in dem die Sonne nie unterging.
Der Kaiser war kleiner, als Friedrich Wieck es erwartet hatte, aber er hatte das Gefühl, die Majestät gebe sich absichtlich bescheiden, weil sie in Wahrheit so unerhört mächtig und imposant war. Nie würde der Vater vergessen, wie seine schöne Tochter in einen tiefen Hofknicks versank und der Kaiser huldvoll auf sie hinunterblickte. »Sie sind ein Wundermädchen, liebes Kind!«, sagte er väterlich in jener melodischen, ein wenig schleppenden Sprechweise, die Friedrich Wieck schon an Alfred von Schönburg immer bewunderte. »Ich hab es gern getan, Sie zur Kammervirtuosin zu machen«, fuhr der Kaiser fort und überhörte Claras Dank. »Nächsten Sonntag sehen wir uns im Bürgerkonzert wieder, nicht wahr?«
Damit wurde Clara an die Kaiserin weitergereicht, die sie ans Klavier verwies. »Dieses schöne Stückl über unsere Wienerstadt, können Sie das noch?«, lächelte sie. Clara verneigte sich und spielte ihr »Souvenir de Vienne«.
Die Anwesenden spendeten freundlichen Applaus, ein wenig zurückhaltender als üblich, befand man sich doch bei Hofe, im Allerheiligsten der mächtigen k. k. Monarchie, der außer dem Parvenu Napoleon noch nie ein Feind ernsthaft etwas anhaben konnte.
Würdevoll und galant, als wäre er bei Hofe geboren, holte Friedrich Wieck seine Tochter vom Klavier ab und suchte nach einem passenden Platz in der Menge der anderen Besucher. »Ich habe den Fürsten noch nicht gesehen«, raunte er Clara befremdet zu. »Er hat doch versprochen, hier zu sein.«
Während der ganzen Veranstaltung hielt er ungeduldig nach dem Erwarteten Ausschau. Dass Alfred von Schönburg fehlte, beunruhigte ihn und beeinträchtigte seine Freude.
Nach zwei Stunden war die Audienz beendet. Schweigend fuhren Clara und Friedrich Wieck zu ihrem Haus zurück. Bevor sie ausstiegen, küsste Friedrich Wieck Claras Hand. »Es war unglaublich!«, sagte er leise. »Nie werde ich diesen Abend vergessen. Ich begreife nur nicht, warum der Fürst nicht erschienen ist.«
Gleich am nächsten Morgen erkundigte er sich nach dessen Verbleib. Der Sekretär geleitete ihn höflich in sein Kontor. Seine Durchlaucht sei gestern Nachmittag ganz plötzlich abgereist, erklärte er. Ausnahmsweise sogar ohne jedes Gepäck. Er sei in Eile gewesen und habe nicht gesagt, wohin er wolle. Nur, dass er frühestens im Herbst wiederkommen werde. Nein, eine Nachricht für Monsieur Wieck habe er nicht hinterlassen. Auch nichts für das gnädige Fräulein ... Der Sekretär zuckte bedauernd die Achseln: »Tut mir aufrichtig leid, Herr Wieck. Aber so ist das eben.«
4
Etwas war zerbrochen. Wenn Clara ihrem Vater zusah, wie er beim Frühstück lustlos seinen Bohnenkaffee trank, der ihn bisher jeden Morgen zu Lobeshymnen animiert hatte, tat ihr dasHerz weh. Das war nicht mehr ihr umtriebiger Papa, der schon am Vormittag vor Tatendrang fast explodierte und auch danach bis zum Abend nicht mehr zur Ruhe kam. Eigentlich war er ein Fremder geworden, erschöpft und enttäuscht. Die Ereignisse des bevorstehenden Tages trieben ihn nicht mehr an. Zwar wusste er genau, was zu tun war, und er erfüllte wie gewohnt seine Pflicht. Doch mit seinen Gedanken war er in einer anderen Welt, vielleicht sogar nirgendwo.
»Papa!«, flehte Clara leise und legte ihre Hand auf die seine. Er aber zog seine Hand zurück und wich Claras Blick aus. »Was hast du denn?«, drängte Clara, obwohl sie die Wahrheit längst
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