Das Maedchen am Klavier
bewusst geworden, wie sehr ihr eigenes Wohlbefinden von der Stimmung ihres Vaters abhing. Er war es, der sie antrieb und lobte. Er war es, der sie zum Lachen brachte und ihr sagte, was jeweils zu tun sei. Nun, da er so niedergeschlagen und gedemütigt war, sank auch Clara in sich zusammen. Ihre Schultern und ihre Arme schmerzten von der ständigen Belastung. Ihre Fingernägel erholten sich nicht mehr, und manchmal taten ihr die Wangen so weh, dass sie sie mit ihren Händen genau so bedeckte, wie sie es von ihrem Vater kannte.
»Was hast du uns angetan!«, klagte Friedrich Wieck, als sie nur noch darauf warteten, mit Franz Liszt zusammenzutreffen, um nicht den Anschein zu erwecken, als flüchteten sie vor einem Vergleich mit ihm. »Ich dachte immer, der Fürst wolle dich heiraten. Hat er denn nie versucht, dir näherzukommen?«
Clara fing an zu weinen. Sie erzählte ihrem Vater von dem letzten Nachmittag mit Alfred von Schönburg. Am meisten quälte es sie, dass er ihre eigene kleine Uhr mitgenommen hatte. »Könnte es sein, dass er sich damit für die Abweisung rächen wollte?«, fragte sie ihren Vater.
Doch Friedrich Wieck schüttelte ärgerlich den Kopf. »SeineUhr ist das Hundertfache wert oder mehr«, widersprach er. »Aber ich würde ihn verachten, wenn er sie dir als eine Art Abfindung aufgedrängt hätte.« Er schwieg lange. »Ich verstehe das alles nicht«, gestand er dann. »Wenn er dich geliebt hat, hätte er doch deutlicher werden können. Aber wahrscheinlich war er zu stolz, um eine Abweisung zu riskieren.« Er strich sich verzweifelt über die Wangen. »Das ist das Schlimmste: dass ich ihn nicht durchschaue. Vielleicht fühlen diese Leute doch anders als wir ... Trotzdem hättest du ihm entgegenkommen müssen, Clara. Du hattest eine Chance. Eine einmalige Chance, und du hast sie verpasst. Damit hast du nicht nur dir selbst geschadet, sondern auch mir. Immerhin ist es denkbar, dass er dich geheiratet hätte. Und welche Möglichkeiten hätten sich uns dann eröffnet!«
Clara hatte aufgehört zu weinen. »Aber ich bin doch eine Künstlerin, Papa!«, rief sie. »Du selbst warst es doch, der mich dazu erzogen hat. Soll denn alles umsonst gewesen sein?«
Friedrich Wieck schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Nichts wäre umsonst gewesen. Die Welt hätte dir gehört, du dummes Ding!«, sagte er kalt und ging hinaus.
Clara blieb allein zurück. Sie legte eine Hand auf die Stelle, wo sie bisher fast ständig ihre Geburtstagsuhr gespürt hatte. Ein geliebter Talisman, obwohl ihr das bisher nicht bewusst gewesen war. Nichts Wertvolles in den Augen der Welt, aber für sie das kostbarste aller Schmuckstücke, weil es aus Liebe und Freundschaft geschenkt worden war – ohne Hintergedanken und ohne Berechnung, allein in dem Wunsch, einem sechzehnjährigen Mädchen eine Freude zu bereiten.
Mit einemmal sehnte sich Clara so heftig wie noch nie nach ihrer Heimatstadt, in der sie jedes Gässchen kannte und jeden Schlupfwinkel, in dem sie sich mit ihrem Liebsten treffen konnte. Leipzig und Robert Schumann: Das war Zuhause. Das war Geborgenheit. Nicht diese große Stadt Wien mit ihrer erdrückenden Vergangenheit und ihren eleganten, übersättigten Konzertbesuchern ... Ich will heim!, dachte Clara und fing nun doch wieder an zu weinen.
Wie beglückend würde es sein, wieder nach Leipzig zu kommen und in Robert Schumanns Gesicht zu blicken, das ihr vertrauter war als jedes andere. Ihr lieber, lieber Robert! Ihr heimlicher Verlobter! War es nicht ein Verrat an ihrer Liebe, diese Verbindung immer noch geheim zu halten? Hätte sie sich früher dazu bekannt, wäre ihr viel erspart geblieben. »Warum verstehst du mich nicht, Papa?«, flüsterte sie, obwohl Friedrich Wieck längst das Zimmer verlassen hatte. Warum verstehst du mich nicht? Warum erlaubst du mir nicht, mich offen zu dem Menschen zu bekennen, zu dem ich gehöre?
Langsam erhob sie sich. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und sehnte sich nach Ehrlichkeit und Klarheit.
Unmittelbar nach seiner Ankunft in Wien sprach Franz Liszt bei ihnen vor. Der größte Pianist und die größte Pianistin ihrer Zeit begegneten einander. Nach dem Trübsinn der vorangehenden Woche tat es Friedrich Wieck und Clara wohl, dass Franz Liszts erster Besuch Clara galt. Da sie gerade nicht zu Hause war, warf er seine Visitenkarte durch das angelehnte Fenster und kam gleich am Abend zum zweiten Mal.
Claras Herz klopfte, als sie sich voreinander verneigten. Er war ein gutes
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