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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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überall fremd zu sein. Zu hören, wie die anderen über Menschen sprachen, die alle kannten außer man selbst. Höflich mitzulachen, wenn über Vorkommnisse aus der Vergangenheit berichtet wurde, an denen man als Einzige nicht teilgenommen hatte. Und dabei immer wieder an eigene Erfahrungen erinnert zu werden, von denen kein Anwesender wusste und die man nicht ins Gespräch brachte, weil man fürchtete, nicht richtig verstanden zu werden.
    Über sich selbst zu sprechen, wenn man fremd war, bedeutete, dass alle aufhorchten, höflich nachfragten und doch irgendwie irritiert waren, weil sich da eine Welt auftat, in der die Hiesigen plötzlich selbst fremd waren. Und das Fremde – diese Erkenntnis senkte sich auf einmal über die selbstgewisse Gesellschaft – das Fremde bedrohte auf eine kaum merkliche, aber verstörende Weise das Gewohnte, in dem man sich geborgen fühlen konnte, weil es keine Geheimnisse barg. Wenn neben der eigenen kleinen Welt eine andere kleine Welt existierte oder vielleicht sogar mehrere, fiel man plötzlich aus der Mitte heraus wie ein Stern, der meinte, das Universum zu regieren und sich auf einmal am äußeren Rand wiederfand.
    »Hast du Angst?« Angst in Paris, weil die Stadt so riesig war und so unübersichtlich. Angst vor den vielen fremden Menschen, die nicht einmal einander trauten. Angst, betrogen zu werden, oder gar, einfach verloren zu gehen. Angst zu scheitern, weil so viele gescheitert waren in dieser Stadt des Lichts, in der dieSchatten schwärzer zu sein schienen als anderswo. Wer hier Erfolge errang, dem öffnete sich auch die übrige Welt, doch wer hier unterging, der fand vielleicht nie mehr ans Licht.
    »Ich habe keine Angst, Mila!«, hatte Clara geantwortet. Feierlich, fast wie ein Schwur hatte es plötzlich geklungen. Dabei war es einfach nur die Wahrheit gewesen. Clara Wieck hatte keine Angst, als sie in Paris ankam, und das änderte sich auch nicht, als die Tage dahingingen, angefüllt mit zahllosen Tätigkeiten vom Aufstehen bis zu dem Augenblick, in dem das Kerzenlicht verlosch.
    Ich habe keine Angst. Clara wusste genau, warum es so war, obwohl ihr Reiseetat zusammenschmolz und sie nicht sagen konnte, wie lange sie überhaupt bleiben würde und was genau ihr bevorstand. Sie wusste es, weil sie den größten Teil ihres Lebens mit angesehen hatte, wie ihr Vater mit jeder Unwägbarkeit fertig wurde, die ihm sein Beruf als Impresario auferlegte. Auf jede Kleinigkeit hatte er geachtet, mit jeder Schwierigkeit war er fertig geworden, sodass er jedes Mal am Ende der Tournee ein sattes Plus verbuchen konnte.
    Friedrich Wieck wusste, wie man sein Schicksal meisterte, und seine Tochter hatte es von ihm gelernt. Immer öfter dachte sie an den Brief, den er ihr zum vierzehnten Geburtstag in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Den genauen Wortlaut hatte sie vergessen. Nur der Anfang war ihr noch präsent: »Meine Tochter, Du sollst nun selbstständig werden, das ist von der höchsten Bedeutung. Ich habe Dir und Deiner Ausbildung fast zehn Jahre meines Lebens gewidmet; bedenke, welche Verpflichtung Du hast.«
    Was für ein Lehrer war er für sie gewesen! Das begriff sie erst jetzt. Wie hatte sie manchmal geschmollt, wenn er ihr als Schreibübung die Verträge hinlegte, die er mit den Veranstaltern abgeschlossen hatte. Clara wusste genau, wie unschön und unregelmäßig ihre Schrift war und dass keine kalligrafische Übung das jemals ändern würde. Dass die Texte dann auch noch so unkindlich langweilig waren, erhöhte ihren Widerstand. Nun aber, Jahre später, erinnerte sie sich wieder daran. Ohne nachzudenken,wusste sie, wie ein Vertrag auszusehen hatte und dass jedes Detail akribisch festgelegt werden musste. Meine Tochter, Du sollst nun selbstständig werden. Ja!, dachte sie, während sie durch die Straßen von Paris eilte, mit dem schnellen Schritt, zu dem er sie erzogen hatte. Ja, Papa. Keine Sorge. Ich bin selbstständig geworden, und ich habe keine Angst.
    So wie Friedrich Wieck in jeder Stadt zuerst die wichtigsten Kontakte knüpfte, so machte sich auch Clara gleich am ersten Tag auf den Weg. Ihr Besuch galt dem Pianoforte-Fabrikanten Pierre Erard. Schon bei ihrem ersten Parisaufenthalt war sie mit ihrem Vater in das prächtige Stadtpalais der Erards eingeladen worden. Damals wurde von kaum etwas anderem gesprochen als vom kürzlichen Tod des charismatischen Firmengründers Sebastien Erard. Sein Nachfolger Pierre – nicht einmal sein Sohn, sondern nur ein Neffe – hatte es

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