Das Maedchen am Klavier
letzter Zeit nachts aufwachen und nach Luft ringen ließ? War es die Angst, die falsche Richtung einzuschlagen, da sie doch jeden Tag vor neuen Wegkreuzungen stand? Wen von den vielen Menschen, die sie bedrängten, sollte sie an sich heranlassen und wen mit aller Strenge abweisen? Welches Angebot sollte sie annehmen und welches abschlagen?
Ich bin einsam!, gestand sie sich plötzlich ein, obwohl da die Französin war, jederzeit zum Gespräch bereit, und die junge Henriette, die sich so viel von ihr erhoffte. Ich bin einsam – obwohl dieser seltsame junge Mann bei den Wiener Behörden herumirrte, um seine Zukunft mit ihr vorzubereiten. Fremd erschien er ihr plötzlich in seinem gesellschaftlichen Ungeschick, obwohl sein musikalisches Talent ihr manchmal den Atem raubte. Ich bin einsam. Wo bist du, mein Vater? Wo ist jemand, der mich in den Arm nimmt und mich fragt, was man denn mit mir angestellt habe?
Ein Wunderkind war sie gewesen. Ein kleiner Engel der Musik,der imstande war, sich selbst zu verzaubern und damit auch jene, die ihm zuhörten. Eine Gabe war es, ein Gottesgeschenk. Sollte das denn nun vergeudet werden im Kampf um Gagen und Rezensionen? Ermüdet und erloschen auf endlosen Kutschfahrten und in ungepflegten Herbergen? Paganinis Madamigella Clara war sie gewesen, der nicht nur die Welt offenstand, sondern sogar der Himmel. Das kleine Mädchen, dem der große Goethe ein Kissen gebracht hatte, damit es die Tasten erreichen konnte. Sollte es von jetzt an nur noch Taler zählen und den Reichen schmeicheln?
Und die Musik? Erklang sie immer noch in ihrem Herzen? Oder war der Schlüssel verloren gegangen, der das Paradiestor öffnete? Musik ... Auch während der Reise hatte sie fast jeden Tag geübt und in den Konzerten hatte sie sich dem Zauber von einst ausgeliefert. Doch mehr als einmal hatte sie gespürt, dass sie dabei war, den Anschluss zu verlieren. Würde sie womöglich eines Tages nur noch die Gesten der Kunst ausführen, ohne selbst von ihr erfüllt zu sein?
Oh, wie sie sich auf einmal nach der Unschuld von einst zurücksehnte, als das große Gefühl einfach über sie kam und sie erfasste ... Ich darf mich nicht selbst verlieren!, dachte sie. Ebenso gut könnte ich sterben.
Paris. So nahe schon. Ein paar Stunden noch, dann begann alles wieder von Neuem. Und dennoch: Man durfte nicht schwach werden. Man musste hoffen und vorangehen. Weiter und immer weiter, wie der Bote mit der unerhörten Nachricht. Auch wenn das Herz klopfte und man meinte, ersticken zu müssen. Eine Station, dann die nächste. Eine Stufe nach der anderen. Immer höher hinauf. Die größte Pianistin ihrer Zeit. Ein zweiter Liszt ... Ein junges Mädchen von neunzehn Jahren, das den Weg ersehnte, der es wieder zu sich selbst zurückführte.
Das Glück der Freiheit
1
Seine »denkende Braut« nannte Robert Schumann Clara in seinen Briefen – halb bewundernd, halb scherzhaft, vielleicht sogar ein wenig verdrossen, denn während sich Clara in Paris von Tag zu Tag fester etablierte, wurde ihm in Wien immer deutlicher bewusst, dass sein Vorhaben, sich in der Kaiserstadt eine gesicherte Existenz aufzubauen, zum Scheitern verurteilt war. Dabei war er mit der Überzeugung hergekommen, hier das Glück seines Lebens zu finden. Anders als in Sachsen, wo er sich immer unterschätzt gefühlt hatte, würde man in der Musikmetropole Wien sein Talent erkennen und ihm endlich die Ehre erweisen, die ihm gebührte.
Sein geheimster Traum war eine Professur am Wiener Konservatorium. Damit, so hoffte er, würde er fürs ganze Leben abgesichert sein. Bestimmt würde man ihm dann auch bald die Genehmigung erteilen, seine Zeitschrift in Wien erscheinen zu lassen. Damit würde sich Robert Schumann, der bislang im Hofgebäude der Witwe Devrient – im »Roten Kolleg« neben der Buchhändlerbörse – gewohnt hatte, vielleicht bald ein eigenes Zuhause leisten können, in dem sein Clärchen standesgemäß residieren würde und in dem er seinen strengen Schwiegervater empfangen konnte, um ihm zu beweisen, dass der »somnambule Fantasiemensch Schumann« in Wahrheit doch ein aufrechter Bürger war, der sein Leben einzurichten verstand.
Schon die ersten Menschen, denen er in Wien begegnete, gefielen ihm. Viel höflicher und aufgeschlossener als die Sachsenkamen sie ihm vor. Diese Meinung geriet jedoch schon nach ein paar Tagen ins Wanken, als drei mürrische Vertreter der Zensurbehörde bei ihm auftauchten und seine »Schriften« zu sehen verlangten, was auch
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