Das Maedchen am Klavier
gut zueinander.
Eines Tages ernteten sie die Kirschen von dem großen Baum in ihrem Garten. Auch Clara beteiligte sich eifrig. Als sie fertig waren, setzten sie sich an den Tisch unter dem Baum und fingen an, von den Kirschen zu naschen. Marianne machte Clara Ohrringe aus den Früchten, und Clara freute sich, als ihr Großvater sagte, nun sehe sie noch einmal so schön aus.
Doch dann wurde Clara plötzlich ernst. Sie blickte um sich, als nehme sie alles zum ersten Mal wahr. Das Gespräch verstummte. Alle hatten das Gefühl, dass irgendetwas anders war. Sie waren sich des Schweigens bewusst, das mit einem Mal auf ihnen lastete. In den Büschen sang eine Amsel, und die Blätter raschelten im Wind. »Mir war, als ginge ein Engel vorüber!«, sagte die Großmutter später, wenn sie sich erinnerte.
Alle schauten auf Clara, die kaum merklich die Lippen öffnete. Sie atmete tief und schien mit sich selbst zu kämpfen. Dann fing sie auf einmal an zu sprechen, ganz unerwartet, doch mit einer klaren, deutlichen Stimme. »Kirschen sind das Höchste für mich!«, sagte sie, ohne dass es ihr Mühe zu bereiten schien. Eine wohlklingende Mädchenstimme, die genau zu ihr passte. Die drei, die sie liebten, saßen da und hörten zum ersten Mal diese Stimme, die ihnen schon nach dem ersten Satz vertraut war.
Kirschen sind das Höchste für mich. Aus der Überraschung wurde Erleichterung und aus der Erleichterung Freude. Eine unbändige Freude nach der langen Ungewissheit. Was zählte noch das Urteil der Menschen oder ihre Verachtung neben diesem einzigenSatz, der einen kleinen Menschen vollständig werden ließ! Kirschen sind das Höchste für mich ... Erst lächelten alle nur, dann lachten sie und umarmten einander. Umarmten Clara, die ebenfalls kaum wusste, wie ihr geschah. Welch ein Erwachen! Welch ein Glück!
Es war noch immer sommerlich warm, als Clara erneut ihr Reisekörbchen um den Hals gehängt bekam, wieder mit einem Apfel und einem Stück Brot, dazu noch mit einem Spitzentaschentuch, das ihre Großmutter eigenhändig umhäkelt hatte. Mutter und Großmutter begleiteten sie. Obwohl sie den gleichen Landstrich durchfuhren wie auf der Hinfahrt, erkannte Clara nichts wieder. Das Land, durch das sie gekommen waren, war von der Härte des Winters gezeichnet gewesen wie von einem Krieg. Jetzt strahlte die Sonne, die abgeernteten Felder leuchteten golden, und auf den Straßen begegnete man vergnügten Wanderern, die den Reisenden zuwinkten.
»Sie war so verstört, als sie zu uns kam«, seufzte die Großmutter, als sie sich von ihrem Gatten verabschiedete. »Und sieh sie dir jetzt an: ein stolzes kleines Mädchen! Oh, wenn wir sie doch behalten könnten!« Ihre Miene verdunkelte sich bei dem Gedanken, dass das Kind nun wieder nach Leipzig zurückkehren würde – in das Haus seines Vaters, der es bei all seiner Liebe womöglich wieder ins Schweigen zurückdrängte.
Weder Marianne noch die Großeltern vermochten herauszufinden, wie Clara über ihre Rückkehr zum Vater dachte. Ein paar Mal hatte die Großmutter gefragt, ob Clara sich denn darauf freue, ihren Papa wiederzusehen. Insgeheim hatte sie gehofft, das Kind würde die Frage verneinen. Dann hätte man vielleicht versuchen können, Friedrich Wieck dazu zu bewegen, auf seine Tochter zu verzichten.
Doch Marianne hatte diese heimlichen Vorstöße immer sofort abgebrochen. »Nie wird er uns Clara überlassen! Sie ist sein Ein und Alles. Bringt mir bitte das Kind nicht durcheinander!«
Und auch Clara hatte jeden weiteren Versuch vereitelt, indemsie ohne Zögern zustimmte: Ja, sie freue sich darauf, ihren Papa wiederzusehen.
Dennoch wollte die Großmutter nicht aufgeben. »Und uns wirst du gar nicht vermissen, meine Kleine?«
»Schon. Aber er ist doch mein Papa!«
Dagegen gab es nichts mehr zu sagen. So saß man nun in einer engen Postkutsche und teilte die stickige Luft mit einem betagten Ehepaar und einer duftenden jungen Dame, die ihr Gesicht hinter einem getupften Schleier verbarg. In Altenburg, auf halber Strecke zwischen Plauen und Leipzig, würde man die Kutsche verlassen. Mutter und Großmutter würden nach Plauen zurückkehren, während Clara mit der Haushälterin Johanna Strobel, die bereits auf sie wartete, nach Leipzig weiterfuhr.
Friedrich Wieck hatte es abgelehnt, das Kind selbst abzuholen. Er sei zu beschäftigt, hatte er an den Kantor, seinen Verhandlungspartner, geschrieben. Wahrscheinlich wollte er aber nur ein Zusammentreffen mit Marianne vermeiden.
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