Das Maedchen am Klavier
Esstisch im Salon – viel zu groß für die kleine Familie, zu der sie zusammengeschrumpft waren: Friedrich Wieck, Clara und die beiden Knaben Alwin und Gustav, die sich von den Worten des Vaters nichtangesprochen fühlten, sondern mit aufgerissenen Augen auf die Pflaumentorte starrten, die Johanna Strobel zur Feier des Tages gebacken hatte. Wenigstens an einem Geburtstag sollten die Kinder Gebackenes essen dürfen, das Friedrich Wieck für so verderblich hielt. »Braune Zähne, schlaffes Fleisch!«, pflegte er verächtlich zu brummen, wenn von süßem Backzeug die Rede war. Trotzdem verzehrte auch er ein Stück von der Torte, und er tadelte seine Kinder nicht, die die silbernen Gabeln aus der Aussteuer ihrer Mutter nicht einmal bemerkten, sondern mit gierigen kleinen Fäusten ihr Tortenstück packten und es in den Mund stopften, als gelte es, dem Hungertod zu entrinnen.
Friedrich Wieck schüttelte den Kopf, als er sah, dass Clara ebenso wenig zurückhaltend war wie ihre Brüder. Er fragte sich, welcher Ernährungsweise und welchen Tischsitten sie wohl in Plauen ausgesetzt gewesen war. »Hast du mich verstanden?«, fragte er und zügelte seinen Ärger.
Clara nickte und erkundigte sich, ob sie noch ein zweites Stück von der Torte essen dürfe.
Alles geschah wie geplant. Korrekt wie ein Buchhalter unterteilte Friedrich Wieck die nächsten drei Jahre in kurze Abschnitte, die er mit exakt aufeinanderfolgendem Lehrstoff füllte, sodass am Ende das Ziel erreicht sein würde und das Wunderkind der Welt präsentiert werden konnte: vollkommen und ohne Makel, keines von den Durchschnittsmädchen, wie sie die Schulbänke drückten und unbekümmert durch die Straßen hüpften, sondern eine kleine Bühnengöttin im Seidenkleid und mit der konzentrierten Miene eines Wesens, das sich seiner Verantwortung bewusst ist.
Die schnellen Fortschritte, die Clara unter seiner Anleitung machte, spornten Friedrich Wieck jeden Tag von Neuem an. Dazu kam die Unruhe, die ihn erfasste, wenn er in der Zeitung vom Auftauchen neuer Wunderkinder las. Er verfolgte jede Nachricht über die Konzerte der kleinen Elfen und atmete auf, wenn wieder einmal berichtet wurde, die eine oder andere seiweinend auf der Bühne zusammengebrochen oder habe sich von einer einfachen Erkältung nicht mehr richtig erholt.
Nur die Robustesten hielten den Maßstäben stand, die sie selbst gesetzt hatten. Die Moke und die Belleville zogen immer noch mit ihren ehrgeizigen Müttern durchs Land und schienen dabei nicht älter zu werden: magere kleine Geschöpfe, deren knospende Brüste in enge Miederchen gepresst wurden und deren kindliche Korkenzieherlocken und plustrige Haarschleifen den Kopf optisch vergrößerten, sodass der Körper noch schmächtiger wirkte und die Proportionen eines Kindes erhalten blieben. Moke, Belleville – alte Tanten!, dachte Friedrich Wieck verächtlich und blickte stolz auf sein Clärchen, das noch lange ein Kind bleiben würde.
Er erschrak allerdings, als in Wien eine neue Klavierprinzessin auftauchte, gerade acht Jahre alt. Man jubelte ihr zu wie den beiden anderen Diven und ehrte sie bereits damit, ihren Vornamen zu unterschlagen. »Die Blahetka« wurde sie genannt, und die Musikpresse prophezeite ihr eine glanzvolle Zukunft. Friedrich Wieck legte die Hände auf die Wangen, um den Schmerz zu unterdrücken, der der Ungeduld entsprang und der Sorge, auf fatale Weise zu spät zu kommen.
Jede Ablenkung sollte vermieden werden. Dass Clara mit sechs Jahren zur Schule gehen sollte, empfand Friedrich Wieck als Einmischung in seine elterlichen Rechte. Er erklärte, er sei viele Jahre als Hauslehrer tätig gewesen und besser als jeder andere in der Lage, sein Kind zu erziehen und zu bilden. Der Schulunterricht beginne früh am Morgen, wenn das Gehirn am wachsten und aufnahmefähigsten sei. Diese Stunden sollten deshalb dem Musikunterricht vorbehalten bleiben und nicht in einer ungelüfteten Schulklasse vergeudet werden. Sein eigener Lehrplan sehe vor, dass Clara am Morgen erst eine Stunde Musikunterricht von ihm erhalten sollte und danach zwei Stunden Klavier übte. Für Schule bleibe da keine Zeit.
Friedrich Wieck diskutierte lange mit dem Leiter des Noack’schenInstituts, der nicht weniger von pädagogischem Eifer angetrieben war als Wieck selbst. Ihre Meinungen prallten so unversöhnlich aufeinander, dass die beiden Männer einander schließlich mit hochrotem Kopf gegenüberstanden und nicht aufhören konnten, um die kleine Seele des
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