Das Maedchen am Klavier
künftigen Wunderkindes zu ringen. Schließlich erkannte aber doch jeder in der Meinung des anderen eine gewisse Berechtigung. So atmete man tief ein, setzte sich und handelte einen Kompromiss aus: Drei Jahre lang sollte die Schülerin Clara Wieck für täglich drei Stunden – die Hälfte der vorgesehenen Unterrichtszeit – das Noack’sche Institut besuchen. Die weitere Ausbildung sollte dem Vater persönlich überlassen bleiben. »Bis dahin kann sie halbwegs lesen, schreiben und rechnen«, erklärte der Schulleiter. »Wenn Sie wirklich vorhaben, Sie danach durch die Welt zu schleifen, möge das Leben selbst sie weiterbilden.«
Friedrich Wieck erhob sich und nickte. Trotz seiner Widerstände war dieser Mann nach seinem Sinn.
»Man wird es an ihrer Schrift merken«, fügte der Schulleiter in einem Anflug von boshaftem Triumph hinzu, als er Friedrich Wieck zur Tür geleitete. »In unserem Institut legen wir großen Wert auf Kalligraphie. Junge Damen werden auch nach ihrer Schrift beurteilt, nicht nur nach ihrem Klavierspiel.«
Friedrich Wieck trat hinaus auf den Gang. »Das muss sich erst erweisen«, antwortete er und drehte sich nicht mehr um. Während er auf die Treppe zuging, hallten seine Schritte auf dem Steinboden, und er schlug insgeheim mit dem Zeigefinger den Marschtakt dazu.
Lehrjahre. Arbeitsjahre, die eigentlich noch zur Kindheit gehört hätten. Für ein Wunderkind gab es jedoch keine Kindheit. Ein Tag glich dem anderen. Lernen, üben und als Ausgleich stundenlange Spaziergänge. Spielen durften nur die Brüder. Dafür wurden sie aber auch verachtet: nutzlose Esser, die den ganzen Tag in der Schule hockten und sich in der Freizeit mit anderen kleinen nutzlosen Essern auf der Straße herumtrieben. Trotzdem erteilteihnen ihr Vater regelmäßig Musikunterricht. Einer wie Friedrich Wieck konnte sich nicht vorstellen, dass ein Kind von seinem Blute kein Instrument beherrschte. Eigentlich aber erwartete er nicht viel von den beiden. Beim geringsten Fehler verlor er die Geduld. Dann kam es vor, dass er dem kleinen Nichtsnutz die Geige um die Ohren schlug, bis das Kind weinte und um Gnade flehte. »Ich mache es schon besser, lieber Papa!«, schluchzte es. »Bitte, lass mich dir zeigen, dass ich es kann!«
Doch Friedrich Wieck war überzeugt, dass Alwin und Gustav ohne Talent geboren waren, und da er nichts von ihnen erwartete, lernten sie auch nicht, an sich selbst zu glauben. Sie freuten sich nur, wenn sogar Clara manchmal ein Fehler unterlief oder sie sich nicht genügend konzentrierte.
Auch sie wurde dann vom Vater getadelt, doch mit welch anderen Worten! »Du musst dich zusammennehmen, Clara! Wie willst du die Welt erobern, wenn du dich gehen lässt wie eine gewöhnliche Klavierschülerin? Du bist etwas Besonderes, also hast du auch Besonderes zu leisten.«
Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, hob Clara bereits die Hände und mühte sich so lange, bis die Röte aus dem Gesicht des Vaters verschwand und einem zufriedenen Lächeln Platz machte.
Wenn die Knaben Zeugen eines Versagens ihrer Schwester wurden, freuten sie sich erst darüber wie über einen eigenen Erfolg. Nach den Worten des Vaters aber drückten sie sich enttäuscht aus dem Raum. Obwohl sie noch Kinder waren, von denen es doch hieß, sie seien rein und unschuldig, hatten sie längst erfahren, was Neid bedeutete, Eifersucht, Schadenfreude und ohnmächtige Wut. Als Antwort bekamen sie erneut die Verachtung ihres Vaters zu spüren, der nicht darüber nachdachte, dass er Clara nicht nur Musik lehrte, sondern ihr auch seine eigenen Gefühle und Urteile einpflanzte.
Es war ein kleiner Krieg, der sich zwischen den Kindern abspielte. Wenn sich die Gelegenheit bot, rächten sich Alwin und Gustav an ihrer Schwester. Sie trennten ihre Rocksäume auf, legten ihr Maikäfer unter die Bettdecke oder streuten ihr Salzin die Limonade. Dafür trug sie die Nase hoch, wenn sie ihnen begegnete, und wenn sie bestraft wurden, lächelte sie überlegen.
»Die armen, mutterlosen Buben!«, brummte Johanna Strobel manchmal, wenn sie an ihrem Herrn vorbeiging. »Sie sind doch auch Menschen!«
Woraufhin Friedrich Wieck knurrte, sie solle den Mund halten, sonst könne sie gleich ihr Bündel packen. Er war überzeugt, ein guter Vater zu sein. Streng, aber gerecht. Jedes Kind wurde so behandelt, wie es das verdiente.
Lehrjahre. Nach Claras fünftem Geburtstag legte ihr Vater ein Tagebuch an, in dem die Entwicklung des Wunderkindes Clara Wieck dokumentiert werden
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