Das Maedchen am Klavier
werden. Für die Knaben wird es kein Problem sein, eine Weile anderswo zu wohnen. Clara möchte ich das allerdings nicht zumuten.« Er packte Marianne am Arm. »Dass du mir aber gut für sie sorgst!«, befahl er drohend. »Jeden Tag Klavier üben – und nicht zu schnell. Du weißt ja, dass sie immer viel zu flott spielt. Jeden Tag spazieren gehen, wenigstens zwei Stunden, und Mäßigkeit beim Essen. Wenig Süßes und Gebackenes, damit sie nicht verweichlicht.«
Sie machten sich auf den Rückweg. Während der ganzen folgenden Stunde sprachen sie nicht mehr miteinander. Marianne hatte begriffen, dass es zwecklos war, Friedrich Wiecks Verständnis zu erhoffen. In seiner abweisenden Kälte war er ein Fremderfür sie. Es wäre ihr fast lieber gewesen, hätte er wie früher heftig mit ihr gestritten. Dafür aber hatte er sich wohl schon zu weit von ihr entfernt. So schnell!, dachte sie. Es ist, als hätte er vergessen, dass wir jahrelang verheiratet waren ... Aber hatte sie selbst es nicht auch vergessen?
Auf der Schwelle ihres Hauses blieben sie stehen. »Morgen früh reist ihr ab«, bestimmte Friedrich Wieck. »Um die Scheidung werde ich mich kümmern. Danach kannst du deinen Galan heiraten, wenn er bereit ist, dem Bastard seinen Namen zu geben. Ich denke, er wird davon nicht begeistert sein. Als er noch mein Freund war, hat er mir gestanden, dass er mit einer reichen Heirat rechnet.«
Deutlicher noch als zuvor wurde Marianne bewusst, wie hoffnungslos ihre Lage war. »Ich werde von etwas leben müssen«, sagte sie, beschämt über die eigene Abhängigkeit. »Was ist mit meiner Mitgift? Und mit den Gagen für meine Konzertauftritte? Mit meinen Honoraren? Ich habe doch auch Geld verdient in all den Jahren!« Sie hoffte, er würde Großmut beweisen und sie nicht demütigen.
Doch Friedrich Wieck zuckte die Achseln. »Mach dich nicht lächerlich!«, antwortete er kalt und ließ sie stehen. »Ich werde eure Reise bezahlen und dir Geld für Clara mitgeben. Das muss reichen. Wovon du danach lebst, geht mich nichts mehr an.«
So viel Unglück für so wenig Glück, dachte Marianne, während die Kutsche in den Morgen hineinfuhr. Wie hastig Adolph Bargiel das Haus seines betrogenen Freundes verlassen hatte! Wie nach dem Sündenfall hatte sie sich gefühlt, und er vielleicht auch. Vom Fenster aus hatte sie ihm nachgeblickt, wie er die Straße hinunterlief und in der Abenddämmerung verschwand, als hätte es ihn und ihre schicksalhafte Begegnung nie gegeben.
Nach der Gewohnheit der vergangenen Wochen hätte er am nächsten Nachmittag wiederkommen müssen. Doch er kam nicht. Auch nicht am folgenden Tag oder irgendwann danach. Eigentlich war sie sogar froh darüber gewesen, erleichtert. AlsFriedrich Wieck dann von seiner Reise zurückkehrte, atmete sie schon auf. Niemand würde je erfahren, was geschehen war. Erst nach ein paar Wochen erlangte sie die Gewissheit, dass ihr etwas Unabänderliches zugestoßen war.
Trotz ihrer Bedrängnis war sie nie auf den Gedanken gekommen, Adolph Bargiel einzuweihen. Von Anfang an war sie jedoch entschlossen gewesen, Friedrich Wieck alles zu gestehen. Aber hätte sie denn überhaupt eine andere Wahl gehabt? »Ich muss mit dir reden«, hatte sie begonnen, als sie ihren gewohnten Spazierweg einschlugen. »Ich muss mit dir reden.«
So viel Unglück für so wenig Glück ... Ratternd und rumpelnd fuhr die Kutsche durch eine Landschaft, in der der bevorstehende Frühling noch kaum zu ahnen war. Hin und wieder floh ein Reh in den Wald, und zwischen den Stämmen glosten die Feuer der Kohlenbrenner. Hie und da ein Bauernhof mitten in den Wiesen und Feldern und einmal zwei Wanderburschen, die wortlos und müde dahintrotteten. Als sie die Kutsche bemerkten, brachten sie sich auf dem Straßenrand in Sicherheit und warteten mürrisch, bis der Weg wieder ihnen gehörte.
Clara aß ihr Brot und schlief dann trotz des Rüttelns ein. Auch Marianne döste vor sich hin. Es lässt sich ja doch nichts ändern, dachte sie und vermied den Gedanken an ihre Eltern und an deren Entsetzen, wenn sie die Wahrheit erfahren würden.
2
Wer sein Kind liebt, züchtigt es, lautete das pädagogische Prinzip, das kaum angezweifelt wurde. Auf welche Weise man diese Regel vollstreckte, hing davon ab, aus welcher Gesellschaftsschicht die Erziehenden stammten, welches Verhältnis sie zur körperlichen Gewalt hatten und wie eng der tägliche Umgang mit ihren Kindern war. Hätte man allerdings den Kantor Tromlitz und seine Gattin
Weitere Kostenlose Bücher