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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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öffnete sie. Von unten, aus der Küche, drang leises Geschirrklappern, und aus dem Wohnzimmer hörte man plaudernde Stimmen. Barfuß stieg Clara die Treppe hinab und horchte. Dann trat sie ein.
    Wie schön es war, so liebevoll begrüßt zu werden! Nie würde sie vergessen, wie alle sie anlachten und sie sich im Nachthemd dazusetzen durfte. Sie musste an ihren Vater denken, der ihr bei aller Liebe eine solche Nachlässigkeit nie erlaubt hätte. Doch es war wunderbar, sich einfach an die Großmutter zu schmiegen und am Vormittag dann mit der Mutter am Klavier zu sitzen, den Körper ohne die Rüstung aus Gestänge und Bändern, die Finger frei und unbehindert. Oh, wie die Töne da dahinperlten! Das ernste Kind Clara konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln.
    Manchmal kam es Clara vor, als ob die Mutter traurig wäre. Früher hätte sie so etwas wohl nicht bemerkt. Zu viel Lärm war immer um sie herum gewesen und über allem die laute Stimme ihres Vaters, der sie allen anderen vorzog. Von Anfang an hatte Clara gespürt, wie wichtig sie ihm war und wie viel er von ihr erwartete. Manchmal, wenn sie einen Fehler machte, hatte sie Angst davor, ihn zu enttäuschen. Dann bemühte sie sich doppelt, bis er wieder Grund hatte, sein Clärchen zu loben. Mit jedem zustimmenden Nicken ihres Vaters blühte sie mehr auf. Er war das Gesetz für sie, größer und wichtiger sogar als der liebe Gott, den sie sich ohnedies genau so vorstellte wie ihren Vater. Sie fühlte sich geborgen bei ihm und wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sie ihn heimlich auch fürchtete. Sein Blick trieb sie ans Klavier und verschloss ihr den Mund.
    Der Sommer kam. Statt der langen Spaziergänge half Clara manchmal bei der Arbeit im Garten der Großeltern. Die Großmutter wunderte sich, dass Clara kein Spielzeug mitgebracht hatte. »Hast du denn keine Puppen?«, fragte sie erstaunt. »Kein Schaukelpferd oder wenigstens eine Strickliesel?« Sie schüttelteden Kopf, als Marianne erklärte, Friedrich Wieck halte diese Kinderspiele für Zeitverschwendung. Ein Wunderkind wie Clara habe Wichtigeres zu tun ... Da bestand Madame Tromlitz darauf, dass man auf den Dachboden stieg und die Spielsachen hervorholte, die einst Marianne gehört hatten. Die Großmutter zeigte Clara die Puppen und ihre prachtvollen, selbst genähten Kleider, das Puppenhaus, den Kaufmannsladen und das Kasperletheater, das der Kantor selbst gebaut hatte. »Wir können alles hinuntertragen«, lockte die Großmutter. »Such dir aus, Clärchen, womit du beginnen möchtest.« Doch Clara blickte nur ablehnend zu Boden. Sie sehnte sich plötzlich nach ihrem Vater.
    »Lass sie, Mutter«, sagte Marianne leise. »Ich glaube, für diese Dinge ist es zu spät.« Sie nahm einen bunten Ball, der in einem roten Netz an einem Haken hing, doch sie versuchte nicht, ihn Clara aufzudrängen.
    Ein paar Tage lang war das Lächeln aus Claras Gesicht verschwunden. Dann entspannte sie sich wieder. Nur am Klavier durfte man sie fordern. Alles andere war zu viel für sie. Einzig der bunte Ball fand ihr Interesse. Sie, die sich so gern und so geschickt bewegte, rollte ihn hin und her, warf ihn hoch, ließ ihn von der Wand abprallen und fing ihn auf, wenn ihr Großvater ihn ihr zuwarf. Von da an spielten sie jeden Tag mit dem Ball, und Clara wurde immer geschickter. Ihr Lächeln kehrte zurück. Auf dem Klavier spielte sie immer schneller und lachte, wenn Marianne sie ermahnte. Ihr Lachen war Medizin für die ganze Familie.
    Noch immer hatte in Plauen niemand Verdacht geschöpft. Doch wenn erst der Sommer vorbei war, würde Clara zu ihrem Vater zurückmüssen und Mariannes Zustand würde sich nicht mehr verheimlichen lassen – kein Unglück für eine verheiratete Frau. Doch was würde man sagen, wenn sich die Wahrheit herumsprach?
    Ein milder Sommer. Claras Gesicht war braun von der Sonne. Manchmal vergaßen Marianne und ihre Eltern fast, in welcher Zwangslage sie sich befanden. Dann saß der Kantor amKlavier, und alle sangen. Auch Clara lächelte, und ihre Augen leuchteten.
    »Sie sieht glücklich aus«, stellte die Großmutter fest. »Wenn sie doch nur sprechen könnte!«
    Eigentlich aber hatten sie die Hoffnung aufgegeben. Marianne forderte Clara nicht mehr auf, etwas zu sagen. »Man muss sich in Gottes Hand begeben«, sagte der Kantor einmal – ohne Resignation, nur in dem tiefen Glauben, dass die Wege des Herrn wunderbar waren. Und so begaben sie sich in Gottes Hand, lebten von einem Tag zum anderen und waren

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