Das Maedchen am Klavier
sie über die Notenmappe strich und mit ergriffener Stimme den Titel las, den er für ihr neues Werk festgelegt hatte, ihr größtes bisher.
»Premier Concert pour le Piano-Forte avec accompagnement d’Orchestre ou de Quintour «, las Clara und hatte plötzlich Tränen in den Augen.
»Der erste Satz müsste Allegro maestoso sein«, riet Friedrich Wieck. »Aber das entscheidest du natürlich selbst.« Das Herz wurde ihm weit in dem Bewusstsein, dass er sich auf Clara verlassen konnte.
Währenddessen verstärkte sich in Robert Schumann das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Keiner seiner Jugendträume hatte sich erfüllt. Was war aus dem künftigen Alexander, Cäsar oderNapoleon geworden? Was aus dem Dichter, der seine Leser in Tränen ertränkte? Was aus dem Nachfolger Mozarts, Bachs, Beethovens oder Schuberts?
Noch immer war er ein erfolgloser Student, dem seine Mutter jeden Monat aus dem Erbe des Vaters eine lächerliche Summe zukommen ließ, die kaum ausreichte, seine anspruchsvollen Bedürfnisse zu befriedigen. Anstatt von einem ergriffenen Publikum gefeiert zu werden, vergeudete er seine Abende im »Kaffeebaum« mit anderen Versagern, die die Welt verbessern wollten und nicht einmal das eigene Leben in den Griff bekamen. Er aß zu viel und trank zu viel von dem neuen bayrischen Bier, das schwerer und berauschender war als das gewohnte Gerstengetränk. »Knill« ging er dann nach Hause – was bedeutete, dass seine Stimme noch undeutlicher klang und er seine Schritte noch unsicherer voreinandersetzte. Knill – in Studentenkreisen lächelte man nachsichtig darüber, als wäre es beinahe eine Leistung, wo es in Robert Schumanns Augen doch die schlimmste Schwäche war: sich zu betäuben, anstatt zu kämpfen. Sich einen ganzen Abend lang aufzugeben, obwohl es doch des ständigen Einsatzes bedurft hätte. Trotzdem trieb ihn seine Unzufriedenheit jeden Abend von Neuem in die Kneipe. Am nächsten Morgen verachtete er sich dann wieder selbst. »Bier – Champagner – knill – Knillität – große Knillität – Katzenjammer!«, schrieb er in sein Tagebuch und nahm sich vor, ab sofort müsse alles anders werden.
Mit neidischem Blick beobachtete er jene Gleichaltrigen, die es schon weiter gebracht hatten als er. Ehemalige Kommilitonen, die inzwischen ihr Studium abgeschlossen hatten und in schwarzen Anzügen früh am Morgen in die Kontore eilten, Aktenmappen unter dem Arm und eine Aura von Wichtigkeit verströmend, die vielleicht nicht ihrer wirklichen Bedeutung entsprach, dem müßigen Beobachter mit seinen unzureichenden Klavierfingern aber dennoch ein Gefühl des Ungenügens einflößten, einer diffusen Reue, des Neids und gleichzeitig einer schützenden Verachtung. »Ich habe alles falsch gemacht«, vertraute er seinem Tagebuch an und schilderte in selbstquälerischen Stichworten seine Reaktionauf den Anblick der Erfolgreichen: »Aus Überdruss betrunken – schwer knill – große Sehnsucht, mich ins Wasser zu stürzen.«
Vor allem das Beispiel Claras entmutigte Robert Schumann immer wieder. Wenn er hörte, dass sie zu spielen anfing, zog es ihn in ihre Nähe. Durch die geschlossene Tür hindurch lauschte er ihrem Spiel. »Meisterlich und schön«, nannte er es in seinem Tagebuch. Das Herz tat ihm dabei weh, weil er fürchtete, als Pianist niemals mit ihr konkurrieren zu können. Er grollte seinen Eltern, die ihn als Kind nur auf die bei Bildungsbürgern übliche Weise gefördert hatten, für die ein Drill à la Wieck aber undenkbar gewesen wäre. Kunst sollte das Leben bereichern und verschönen – zur Lebenssicherung diente sie nicht.
In letzter Zeit hatte er das Gefühl, noch langsamer vorwärtszukommen als bisher. Friedrich Wieck beklagte immer noch die Schwäche seiner Finger, vor allem an der rechten Innenhand. Immer wieder verwies er auf Claras Beispiel.
Clara selbst lobte Robert Schumann fast ständig. Als sie einmal dabei war, Bach’sche Fugen zu üben, forderte sie ihn auf, sich zu ihr zu setzen. Er tat es bereitwillig und fühlte sich wie im Himmel, als er vierhändig mit ihr spielte und sie einander gleichwertig zu sein schienen. »Abends riss ich mit Clara sechs Bachische Fugen ab«, notierte er selig in sein Tagebuch. »Vierhändig und a vista prima. Grandios!«
Am nächsten Morgen hörte er, dass sie das gleiche spielte wie mit ihm. Lächelnd trat er an die geschlossene Tür, doch dann wurde er blass. Die Kraft in Claras Spiel packte ihn wie ein körperlicher Schmerz. Noch gestern hatte
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