Das Maedchen am Klavier
sondern man redete ununterbrochen. Robert Schumann wunderte sich, wie wenig Schulbildung Clara besaß. Er erklärte ihr den Unterschied zwischen Gänsen und Enten und belehrte sie, dass ihre Lieblingsspeise Pfannkuchen nicht mit einem F begann. Dafür suchte sie die schönsten Wege für ihn aus und passte auf, dass er über keine Wurzel stolperte. Immer wieder zupfte sie ihn am Rock, um ihn zu warnen. Einmal fiel sie dabei selbst hin, aber sie lachte nur, als Robert Schumann ihr aufhalf und ihr den Staub aus dem Kleid klopfte.
Eine schöne Zeit. Der Sommer verging, und es wurde Herbst. Manchmal wanderten sie durch den Nebel, oder es war schon dämmerig, wenn sie zurückkehrten. Robert Schumann traute seinen Ohren kaum, als er Clara eines Nachmittags plötzlich flüstern hörte: »Oh, wie glücklich bin ich! Wie glücklich!« In diesem Augenblick spürte er, dass auch er selbst glücklich war.
Doppelgänger
1
Es schien eine verkehrte Welt zu sein: Robert Schumann mit seinen zweiundzwanzig Jahren führte das Leben eines Studenten, den die Öffentlichkeit ignorierte, während die dreizehnjährige Clara Wieck bereits als fertige Künstlerin verehrt wurde. Robert Schumann machte Fingerübungen, konstruierte jeden Tag stundenlang an der Schiefertafel vierstimmige Sätze und studierte unter Friedrich Wiecks Aufsicht Czernys eben veröffentlichte »Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte« . Unbeachtet saß er hinter der Bühne des Gewandhauses und hörte zu, wie Clara mit Chopin-Variationen, Bravourstücken von Herz und einem Konzert von Pixis Begeisterungsstürme hervorrief, für die sie sich mit ihrer neuen, in Paris gelernten Leichtigkeit bedankte. Robert Schumann im Dunkel, Clara Wieck im hellen Licht. Ohne seinen Glauben daran, dass eine große Zukunft auf ihn wartete, hätte er es wohl nicht ertragen. Wie sie da draußen saß und aller Augen auf sie gerichtet waren, konnte er nicht anders, als sie beneiden.
»Dieses kleine Mädchen ist ein Stachel in meinem Fleisch«, gestand er seinem Freund Glock, mit dem er manchen Abend im »Kaffeebaum« verbrachte.
Glock verstand ihn. Auch er hatte bereits mehrere Umwege hinter sich. Die Theologie hatte er aufgegeben, um sich mit der Medizin zu beschäftigen, und schon wieder kamen ihm Zweifel. »Wir vergeuden alle unser Leben«, murmelte er undeutlich.
Doch Robert Schumann schüttelte den Kopf. »Dieses Mädchennicht«, antwortete er und trank sein Glas auf einen Zug leer. »Clara nicht.«
Trotzdem klatschte er laut, als sich Clara im Gewandhaus verneigte. Noch in derselben Nacht verfasste er eine Rezension, die er schon vor dem Frühstück an den »Kometen« schickte. Eine Woche später konnte Clara es lesen: »Der Ton der Belleville«, hatte er geschrieben, »schmeichelt dem Ohr. Der der Clara senkt sich ins Herz. Jene ist dichtend, diese das Gedicht.«
Claras Wangen röteten sich vor Freude, und Friedrich Wieck nickte zufrieden. Man zog an einem Strang. So gehörte es sich.
Trotzdem war Robert Schumann eigentümlich still, als er am Nachmittag mit Clara ins Freie marschierte. »Ich schäme mich, dass du schon so viel weiter bist als ich«, gestand er plötzlich und blieb stehen. Eine unerwartet strahlende Herbstsonne brannte auf die abgeernteten Felder herab. Robert Schumann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie immer machte ihm die Hitze zu schaffen, während Clara sie nicht einmal zu bemerken schien.
»Ich bin weiter als Sie, weil ich meine Kindheit übersprungen habe«, sagte sie leise und wurde sich dieser Tatsache zum ersten Mal bewusst.
Robert Schumann zuckte die Achseln. »Ist die Kindheit denn so viel wert?«, fragte er. »Glaub mir, Clara, du kannst deinem Vater dankbar sein, dass er dich vor ihr bewahrt hat.«
Clara überlegte kurz, dann lächelte sie und ging weiter. »Möglich«, sagte sie leichthin. »Was weiß man schon.«
Danach wandten sie sich wieder ihren gewohnten Themen zu. Nach einem kurzen Hin und Her erzählte er ihr, dass er schon bei seinem ersten Leipziger Aufenthalt das romantische Konzept des inneren Doppelgängers übernommen hatte. »Jeder von uns ist nicht nur eine einzige Person, sondern mindestens zwei«, erklärte er Clara, der als erste Antwort darauf einfiel, dass Clementine jetzt bestimmt sagen würde, der junge Schumann sei doch wirklich ein ganz arger Schwärmerer.
»Es ist aber wirklich so«, beharrte Robert Schumann. »Auchmein eigener Charakter teilt sich in zwei Hälften. Ich habe ihnen sogar
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