Das Maedchen am Klavier
sie ihn mit ihrer Vitalität angesteckt, und er hatte gemeint, mehr ginge nicht. Nun, da sie allein am Klavier saß, schien sie plötzlich noch viel energischer aus sich herauszugehen und die Komposition noch hundertmal intensiver auszuleben als mit ihm gemeinsam. Der Schweiß brach ihm aus bei dem Gedanken, dass sie sich womöglich seinetwegen zurückgehalten hatte, so wie er sie beim Spaziergang manchmal verdächtigte, sie drossle das eigene Tempo, um ihn nicht zu sehr anzustrengen oder gar zu demütigen.Er zerbrach sich den Kopf, wie er seine Schwäche überwinden könnte. Dabei zweifelte er keineswegs am eigenen Talent. Noch immer war er überzeugt, mit den Allergrößten Schritt halten zu können und später im Gedächtnis der Menschheit an ihrer Seite zu stehen. Das einzige Hindernis auf diesem Weg schien ihm die fatale Schwäche der eigenen Hände zu sein. Immer wieder hörte er Klavierspieler über Schwierigkeiten mit dem Ringfinger klagen. Er selbst aber fühlte sich vor allem vom Zeigefinger der rechten Hand im Stich gelassen, der ihm manchmal wie ein kleiner Feind erschien, der ihn bremste und um sein glanzvolles Schicksal betrog. »Ich kriege dich schon noch!«, zischte er seinen heimlichen Gegner an, doch er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. »Üben, üben, üben!«, gebot Friedrich Wieck, doch Robert Schumann fürchtete immer öfter, dass kein Üben der Welt ausreichen würde.
Eusebius, der Milde, nahm sich Meister Raros Befehl zu Herzen und übte jeden Tag so lange, bis er daran verzweifelte. Kein Lehrer hätte ihn strenger beurteilen können, als er selbst es tat. »Ich kann es nicht. Ich kann es nicht«, flüsterte Eusebius, bis sich seine Augen mit Tränen füllten. Damit aber gewann Florestan, der Wilde, die Oberhand. Er schrie Eusebius’ leise Klage wütend heraus: »Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!« Dabei hämmerte er mit den Fäusten in die Tasten, dass der ganze Missklang seiner Seele durchs Haus schallte und der Diener August kopfschüttelnd »Er spinnt schon wieder« vor sich hin murmelte.
Nein, üben reichte nicht aus, das begriff Robert Schumann. In der grauen Stille des Morgens, wenn die Erkenntnis die Selbsttäuschung besiegte, dachte er, dass er sich der Natur unterwerfen sollte, indem er seinen Plan einer Pianistenkarriere aufgab und sich dem zuwandte, wofür er anscheinend geboren war: dem Schreiben und vor allem dem Komponieren. Beides fiel ihm leicht – womöglich allzu leicht, sodass er es zu wenig schätzte. Kunst musste weh tun, so verlangten es seine romantischen Helden. Jeder Schaffensprozess war eine Art Geburt und deshalb per se mit Schmerzen verbunden.
Ein neuerlicher Wechsel? Als Jurist gescheitert und nun auch als Pianist? Was unterschied ihn denn noch von seinem Kameraden Glock mit seinem unsteten und doch ungelebten Leben, das ihn frühzeitig altern ließ? Glock war einer, der schon zu oft aufgegeben hatte – Robert Schumann wollte lieber sterben, als so zu werden wie er.
War es Eusebius, der Versöhnliche, Konstruktive, der Robert Schumann auf den Gedanken brachte, der alles entschied? Oder war es Florestan, der Kämpfer, der alles riskierte und sogar die eigene Zerstörung in Kauf nahm? Auf jeden Fall musste ein Weg gefunden werden, den rechten Zeigefinger zu disziplinieren, wenn nötig, mit Gewalt. Da ihn das Üben nicht mehr weiterbrachte, musste zu anderen Mitteln gegriffen werden.
Nächtelang, damit niemand etwas davon bemerkte, bastelte Robert Schumann von nun an an einer Vorrichtung, die die Logier’sche Haltungskontrolle bei weitem übertraf. Seine »Cigarrenmechanik« nannte er das Gerät, das den widerspenstigen Finger so aggressiv trainieren sollte, dass der Widerstand der Klaviertasten danach keine Rolle mehr spielte.
Alle Finger der rechten Hand wurden festgeklemmt. Nur der Zeigefinger blieb frei beweglich. Ihn steckte Robert Schumann in die Schlinge einer Aufhängevorrichtung, deren starken Widerstand er – als drücke er eine Taste nieder – überwinden musste. Diese Übung kostete den Finger alle Kraft. Trotzdem wiederholte sie Robert Schumann, solange es ging. Während ihm schon der Schweiß auf der Stirn stand, stellte er den Widerstand immer noch stärker ein.
Am nächsten Morgen schmerzte ihn der Finger – eine Art Muskelkater, wie Robert Schumann achselzuckend entschied. Sein Herz klopfte vor Triumph, als Friedrich Wieck während des Unterrichts knurrend feststellte, irgendwie käme ihm heute das Spiel seines Schülers
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