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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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schleichen wollte, um einen Kanten Brot zu stibitzen. Die Tür zur Stube war geschlossen, unter dem Türspalt schien Licht hindurch. Das erschien mir so merkwürdig, dass ich stehen blieb und das Ohr an die Tür drückte. Es hätten sich ja auch Diebe in dem Raum befinden können, obwohl bei uns weiß Gott nichts zu holen war. Aber es waren die Eltern, und ihr Gespräch faszinierte mich so sehr, dass ich mich nicht von der Stelle rührte.
    »Ich würde zu gerne Mäuschen spielen, wenn die Kinder ihre erste Beichte ablegen«, sagte die Mutter. Sie kicherte, und ich zuckte zusammen. Ich hatte sie schon lange nicht mehr kichern hören.
    »Ach, was sollen die schon sagen?«, grummelte der Vater. »Dass sie die Eltern nicht gebührend ehren und dass sie während der Messe an etwas anderes denken als an die Werke unseres Herrn Jesus Christus.« Er lachte kurz auf. »Das habe ich dem Pfarrer damals erzählt. Weißt du noch, der alte Fischbach?«
    Mutter lachte leise. »Der, der mit seiner Haushälterin …?«
    »Hmm.« Das hieß bei Vater eindeutig »ja«.
    »Sie sollten die Kinder erst so mit fünfzehn, sechzehn Jahren beichten lassen. Dann hätten sie wirklich etwas zu erzählen.«
    »Ah? Sag bloß, du hättest mit fünfzehn schon sündige Gedanken gehabt?«
    »Du nicht?« Wieder hörte ich Mutter kichern.
    Hatten die Eltern heute Abend etwa von dem Aufgesetzten getrunken? Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass die Erwachsenen sich merkwürdig benahmen, sobald sie alkoholische Getränke genossen hatten. Und wovon sprachen sie überhaupt? Warum sollte man sündige Gedanken erst später haben sollen und noch nicht als Kind? Ich für meinen Teil hatte reichlich davon. Waren es etwa keine sündigen Gedanken, wenn ich mir den Tod von Matthias ausmalte, mir für Herrn Friedrich einen schrecklichen Unfall wünschte oder davon träumte, Hildegard eines Nachts all ihre schönen blonden Locken abzuschneiden? Für was hielten die Eltern uns Kinder?
    »Manchmal«, sagte Vater, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass das die Antwort auf Mutters Frage nach den »sündigen Gedanken« war.
    »Und – hast du jetzt auch welche?«, fragte Mutter leise.
    Die Antwort hörte ich nicht, doch ich vernahm Geraschel und Schritte. Blitzschnell verschwand ich in der Küche, versteckte mich im Vorratsschrank und hoffte, dass die beiden schnurstracks auf ihr Zimmer gingen. Mein Bauch tat inzwischen so weh, dass mir schwindlig wurde.
    Ich hörte meine Eltern die Treppe hinaufgehen. Erleichtert huschte ich aus meinem Versteck. Ich stand im Dunkeln in der Küche, fror und knabberte an meinem Stück Brot. Danach spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Bauch und sank zu Boden. Ich muss unwillentlich einen Schrei oder ein Stöhnen von mir gegeben haben, denn wenig später kam Vater in die Küche. Er hob mich auf, dann fiel ich in Ohnmacht.
    Was sich dann ereignete, weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Mein Vater sattelte unser einziges Pferd, während Mutter mich in dicke Decken packte. Bei Nacht und Nebel ritt mein Vater mit mir die weite Strecke nach Gemünden, wo es einen alten Arzt gab, der früher beim Militär gewesen war. Frühmorgens und unter widrigsten Umständen schnitt der Arzt meinen Bauch auf und befreite mich von meinem entzündeten Blinddarm.
    Als ich aus der Narkose wieder zu mir kam, saßen meine Eltern mit besorgten Gesichtern an meinem Bett.
    »Warum hast du denn nicht rechtzeitig etwas gesagt?«, wollte mein Vater wissen.
    »Du musst doch Bauchweh gehabt haben«, sagte Mutter.
    Natürlich hatte ich Bauchweh gehabt. Aber keines meiner Geschwister hatte sich je vor der Schule drücken können mit der Begründung, es habe Bauchschmerzen. Diese Art von Beschwerden wurde bei uns einfach ignoriert. »Da sitzt nur ein Furz quer«, pflegte mein Vater in solchen Fällen zu behaupten, und »ist nur der Hunger« meine Mutter. »Dann wird dir das Abendbrot umso besser schmecken.« Wer würde angesichts solcher Reden die Eltern noch mit Gejammer über Bauchweh behelligen wollen?
    »Du hast Glück gehabt, dass der Feldarzt dich operiert hat. Der braucht kein vornehmes Hospital.«
    Glück? Ich hatte wahnsinnige Schmerzen und fühlte mich elend wie nie zuvor in meinem Leben. Und warum sagten meine Eltern nicht mal etwas wirklich Nettes, anstatt so anklagend dreinzuschauen?
    »In ein paar Tagen können Sie Ihre Tochter mit nach Hause nehmen«, sagte der Arzt. Ich war anscheinend in seinem Haus untergebracht, weil ich

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