Das Mädchen am Rio Paraíso
die ich kannte, würde mir erspart bleiben.
Mit zehn Jahren feierte ich meine Kommunion. Ich war zwar das älteste, aber auch das hübscheste Mädchen, und von allen Kindern war ich dasjenige, das die Zeremonie am besten beherrschte. Ich wusste genau, wann man aufzustehen und wann zu knien hatte, wann man jenes Lied sang oder dieses Gebet sprach. Ich war sehr stolz auf mich und meine Darbietung, insbesondere auf die im Beichtstuhl. Ich hatte ein Jahr Zeit gehabt, mir Gedanken über glaubhafte Sünden zu machen, und ich denke, der Pfarrer war sehr angetan von meiner Beichtfreude.
Als ich elf war, musste Hildegard den Knecht der Kelbels heiraten, der fortan bei uns im Haus lebte und den ich anfangs nie beim Namen nennen konnte. Ich sprach ihn nur mit »Schwager« an. Ungefähr ein Jahr später, zu dem Zeitpunkt, da ich begann, mich an seinen Namen, Theo, zu gewöhnen, starb unsere Mutter. Auch das Kind, das sie erwartet hatte, überlebte die Geburt nicht. Ich hatte mich sehr auf ein kleines Geschwisterchen gefreut, doch nun hasste ich das arme tote Wesen dafür, dass es unsere Mutter auf dem Gewissen hatte. Vater grämte sich beinahe zu Tode, und bei uns zu Hause herrschte monatelang große Traurigkeit. Es war sehr schlimm für uns alle, doch das Leben musste ja weitergehen. Hildegard übernahm die Aufgaben und Pflichten der Mutter, und obwohl sie nun selber bereits mit dem zweiten Kind schwanger war, war sie von frühmorgens bis zum späten Abend auf den Beinen, um diesen großen Haushalt zu führen. Neben Großvater Franz, Tante Mechthild und Vater lebten noch vier meiner Geschwister zu Hause, zwei davon mit eigener Familie. Peter, der drittälteste meiner Brüder, hatte ebenfalls geheiratet und mit seiner Frau einen Sohn, den wir alle sehr liebhatten und verhätschelten. Und dann waren da noch Lukas und Matthias, Letzterer nicht mehr gar so ein Quälgeist wie früher. Jedenfalls nicht für mich – er konzentrierte sich jetzt auf seine Nichten und Neffen, die ihm vollkommen wehrlos ausgeliefert gewesen wären, wenn ich nicht ein Auge auf sie gehabt und sie verteidigt hätte.
Mit dreizehn fuhr ich nach Simmern. Ich sang im Chor unserer Kirche, und weil ich eine so schöne Stimme hatte, durfte ich, als eines Tages ein Bischof die Kreisstadt besuchte, mit anderen Kindern aus dem Hunsrück an einer Aufführung zu Ehren des hohen Gastes teilnehmen. Simmern war die größte Stadt weit und breit, sogar ein Schloss gab es dort, und nachdem ich ja bereits in Gemünden gewesen war, fühlte ich mich angesichts dieser weiteren »großen« Reise endgültig wie jemand, der für das Leben innerhalb der engen Grenzen einer Dorfgemeinschaft nicht geschaffen war.
Wieder übertrieb ich maßlos in meinen Erzählungen. Dass das Schloss in Wahrheit gar keines war, sondern einfach nur ein großer Verwaltungsbau, musste ich ja keinem verraten. Ich dichtete dem Gebäude goldene Zinnen und französische Lustgärten an, und die Leute in Ahlweiler hörten mir staunend zu.
»Du bist schon so weit herumgekommen«, sagte Hildegard eines Tages zu mir, »bestimmt packt dich eines Tages das Reisefieber. Dann sind wir dir nicht mehr gut genug, und du suchst dein Glück woanders.« Sie hatte dabei so einen Ton, als wollte sie mich foppen, aber ich verstand überhaupt nicht, was daran so komisch sein sollte. Selbstverständlich würde es so kommen.
Ich wusste, dass mir ein besseres Schicksal vorherbestimmt war.
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5
T eresa war seit über dreißig Jahren im Dienst der Familie Almeida. Sie hatte Raúl auf die Welt geholt, das einzige Kind von Dona Ana Luisa und Senhor Carlos António. Sie hatte den tragischen Tod des jungen Ehepaares während eines Brandes miterlebt, und sie hatte den verwaisten Jungen seitdem nie wieder aus den Augen gelassen. Sie wich nicht von seiner Seite, weder als er von seiner Tante nach Porto Alegre geholt wurde noch als er für einige Jahre nach Rio de Janeiro gegangen war, um sich dort bei einem namhaften englischen Gelehrten in Ökonomie unterrichten zu lassen.
Längst war sie für den nunmehr 29 -Jährigen zu einer Ersatzmutter geworden, auch wenn er sie weiterhin duzte und sie ihn mit »Senhor Raúl« ansprach. Das war nur eine Angewohnheit, die nichts an den Gefühlen änderte, die sie füreinander hegten. Denn dass Raúl sie ebenso sehr liebte wie sie ihn, davon war sie überzeugt. Als er ihr eines Tages eröffnet hatte, sie sei ein freier Mensch und könne hingehen, wohin es ihr beliebe, hatte sie ihm eine
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