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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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schallende Ohrfeige gegeben.
    Ob sie auf dem Papier als Freie galt oder nicht, war ihr herzlich egal. »Senhor Raúl, bezeichnen Sie mich ruhig weiter als Ihre Sklavin. Das ist mir viel lieber, und es entspricht auch mehr den Tatsachen, als wenn Sie mich ›Haushälterin‹ nennen. Ich finde, das klingt so … unecht.« Raúl gab ihr insgeheim recht. So oder so: Teresas Status im Haushalt Almeida war unantastbar.
     
    Als am 20 . März 1827 die Zeitungen geliefert wurden – eine regionale sowie eine aus der Hauptstadt – dankte Teresa dem lieben Gott dafür, dass der Briefträger ausnahmsweise einmal so früh dran war. Sie wollte gerade die Scheiben der Vitrine im Salon polieren und hatte festgestellt, dass der Papiervorrat zu Ende ging, als sie aus dem Fenster den Postboten sah. Sie rief nach dem ihr untergeordneten Dienstmädchen und wies es an, die Post hereinzuholen.
    Der neue Papierstapel kam ihr sehr gelegen. Sie hatte keinerlei Hemmungen oder Zweifel, ob sie sich an den Zeitungen vergreifen durfte, bevor Raúl sie in der Hand gehabt hatte. Sie kannte Raúls Lesegewohnheiten genau. Den Teil mit den Kleinanzeigen konnte sie guten Gewissens nehmen, den legte er immer als Erstes ungelesen zur Seite. An den Kulturteilen hatte er ein ähnlich geringes Interesse, die blätterte er bestenfalls kurz durch und überflog die Überschriften. Im Notfall würde sie also auch davon noch die eine oder andere Seite für ihre Reinigungsaktion stibitzen.
    Teresa konnte weder lesen noch schreiben. Doch Raúl hatte ihr so oft Nachrichten vorgelesen, dass sie wusste, wie die einzelnen Teile aussahen beziehungsweise wo sie sich befanden. Die Annoncen waren gut daran zu erkennen, dass es sich um sehr viele kleine Notizen handelte, meist von einem schwarzen Rahmen begrenzt. Im Wirtschaftsteil waren immer Zahlenkolonnen abgedruckt, Politik befand sich auf den ersten Seiten, die Ergebnisse der Pferdewetten ziemlich weit hinten. Im Kulturteil der überregionalen Zeitung, des »Jornal do Comércio«, gab es immer eine Karikatur, deren Witz Teresa nie recht verstand, aber über die Raúl oft lauthals lachte, während im Kulturteil ihrer lokalen Zeitung, dem »Jornal da Tarde«, meistens Gedichte von Lesern abgedruckt waren, über die Raúl noch lauter lachte und die an ihrer äußeren Form leicht zu erkennen waren. Es bestand also nicht die Gefahr, dass sie, Teresa, sich versehentlich eine Seite schnappte, die ihr Dienstherr vermissen würde.
    Doch genau an diesem Tag hatte die junge Sklavin Aninha, die Teresa im Haus zur Hand ging, die Zeitungen beim Hereinholen so ungeschickt gegriffen, dass einige Seiten herausgefallen waren. Diese hatte das Mädchen dann schnell aufgehoben und wieder irgendwo in den Stapel geschoben. Sie ahnte nicht, dass sie damit die gewohnte Ordnung innerhalb der Zeitung durcheinanderbrachte.
    Genauso wenig ahnte Teresa, dass sie die Vitrinenscheiben mit einer Seite der Lokalnachrichten säuberte – einer Seite, die normalerweise kaum Spannenderes bot als Nachrichten über die örtlichen Honoratioren oder Notizen über die zunehmende Anzahl von Unfällen mit Pferdekutschen.
    Außer an diesem 20 . März 1827 .

[home]
6
    N och immer war ihr Erinnerungsvermögen stark beeinträchtigt. Sie vergaß ständig alles, was man ihr sagte, und das war aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten ohnehin wenig genug. Aber warum, verflucht noch mal, hatte sie schon wieder den Namen der Negerin vergessen? Und wie hatte sich noch einmal der düster dreinschauende Mann vorgestellt? Es gab nur zwei Dinge, an die die junge Frau sich sehr deutlich erinnerte: An ihren eigenen Namen, Menina. Und an das Datum, das der Mann ihr notiert hatte.
    Sie glaubte weiterhin, dass man hier üble Späße auf ihre Kosten trieb. Es konnte nicht März sein. Es herrschten Temperaturen von annähernd 40 Grad – oder empfand sie es nur so, weil sie vielleicht fiebrig war? Nein, nein, draußen war ja auch alles üppig grün, wie im Hochsommer. Wie schon so oft in den letzten Tagen stand sie auf, um ans Fenster zu treten. Ihre Schwindelgefühle hatten deutlich nachgelassen. Ihr Kopf schmerzte zwar noch immer bei der geringfügigsten Bewegung, aber es war auszuhalten. Sie öffnete das Fenster und atmete tief ein. Die Luft war erfüllt von einem schweren, erdigen Duft, den sie als köstlich empfand. Es hatte in der Nacht zuvor heftig geregnet, und der von der Erde aufsteigende Dampf war so aufgeladen mit dem intensiven Geruch der Natur, dass sich

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