Das Mädchen am Rio Paraíso
werden. Denn dass Matthias den Topf mit Absicht vom Herd gestoßen hatte, nachdem er sich zuvor den Bauch mit
meinem
Geburtstagsessen vollgeschlagen hatte, stand für mich fest. Ich sah es an dem boshaften Funkeln in seinen Augen. Ich brach in Tränen aus.
Mutter buk uns Apfelpfannkuchen, und ich durfte Matthias’ Anteil an dem Zimtzucker, der für den Milchreis vorgesehen gewesen war, über meinen Pfannkuchen streuen. Ich fand die Strafe viel zu mild für die große Gemeinheit, die mein Bruder mir angetan hatte. Ich sann auf Rache. Und nicht nur ihm gegenüber. Am liebsten hätte ich meine ganze Familie mit der Mistgabel aufgescheucht, denn fast noch furchtbarer als Matthias’ Boshaftigkeit war der Umstand, dass er mit seinem herzerweichenden Gesichtsausdruck, der nichts außer Reue und Trauer zeigte, auch noch das Mitleid der anderen Familienmitglieder erregte.
»Kann passieren, gräm dich nicht länger.« Mutter strich ihm dabei mit der Hand zärtlich über das seidige blonde Haar.
»Hier, kannst ein Stück von meinem Zimtpfannkuchen haben«, sagte Ursula, unsere älteste noch im Haus lebende Schwester, »ich bin eh schon satt.«
Meine Unterlippe begann zu zittern. Gleich würde ich losheulen müssen. Lukas, der gutmütigste meiner Brüder, schien mich und die anderen von dem Drama ablenken zu wollen, das er da auf sich zukommen sah. »Mir sind mit acht Jahren noch viel schlimmere Sachen passiert«, erklärte er wichtigtuerisch und schob die Ärmel seines groben Leinenhemdes hoch. Als ob wir nicht alle die Narben gekannt hätten, die er sich bei einem ähnlichen Unfall am Herd, nur mit einem Topf kochenden Wassers, zugezogen hatte.
Sein plumper Versuch, mich die Ursache meiner Traurigkeit vergessen zu lassen, schlug fehl. Ich begann zu weinen, stand abrupt vom Tisch auf und lief aus der Küche. Wer hatte bitte schön heute Geburtstag? Ich! Wer war unartig gewesen? Matthias! Und wer wurde bestraft, wer belohnt? Ich verstand die Welt nicht mehr. Das Letzte, was ich hörte, bevor ich die Treppe hinauflief, war die Stimme meines Vaters. Es wurde keinesfalls geduldet, dass ein Kind sich ohne Erlaubnis vom Tisch entfernte. »Den Rest des Tages Stubenarrest!«, rief er mir nach, und ich war nicht einmal unfroh darüber. In meiner Kammer hätte ich wenigstens Frieden vor den Misshandlungen meines nächstälteren Bruders.
Der Rest dieses verkorksten Tages verlief dann erstaunlich schön. Alle, mit Ausnahme meines Vaters und Matthias’, besuchten mich »heimlich« in meiner Kammer, überreichten mir ihre bescheidenen Geschenke, redeten mir gut zu oder munterten mich mit albernen Späßen auf. Ursula entschuldigte sich sogar für ihre Gedankenlosigkeit: »Wenn ich gewusst hätte, dass du noch Pfannkuchen wolltest, hätte ich ihn dir angeboten. Aber du hast so satt und zufrieden ausgesehen …« Mir kamen wieder die Tränen hoch, doch Ursula, die schon sechzehn Jahre alt war und mir mehr wie eine Mutter als wie eine Schwester erschien, gelang es, mich von neuerlichem Weinen abzuhalten. Sie nahm mich in die Arme und küsste mein Haar und flüsterte Worte in mein Ohr, die süßer klangen, als sie waren. »Scht, meine hübsche Kleine, reg dich nicht auf. So ist das Leben nun einmal. Die Männer kriegen immer das Beste, wir nur die Reste. Ha«, unterbrach sie sich, »das reimt sich ja! Nun denn. Und du darfst das nie anzweifeln, geschweige denn über diese Ungerechtigkeit heulen. Im Gegenteil. Wenn du geweint hast, siehst du hässlich aus, mit verquollenen Augen und roter Nase, und dann nimmt dich kein Mann mehr. So eine kleine Schönheit wie du, die macht eine richtig gute Partie, wart’s nur ab. Aber nur, wenn du dich fröhlich gibst, auch wenn du’s nicht bist.«
Ich hätte gleich wieder losflennen können. Einzig der Versuch, die Logik hinter dieser bemerkenswerten Lektion zu begreifen, hielt mich davon ab. Wieso sollte ich jemals einen Mann haben wollen, wenn dessen Aufgabe vor allem darin bestand, mir das Beste streitig zu machen? Ich würde niemals heiraten, schwor ich mir, wenn damit dasselbe Schicksal einhergehen sollte wie jenes, das ich jetzt erlebte: immer als Letzte aus der Schüssel nehmen zu dürfen, immer als Erste ins Bett gehen zu müssen, nie gelobt zu werden für etwas, was nicht eines meiner Geschwister besser könnte als ich.
Schon jetzt, in meinem ersten Schuljahr, konnte ich schöner schreiben als Matthias, aber neben der sauberen Handschrift von Hildegard, die mir schon vor meiner
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