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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Einschulung das Alphabet beigebracht hatte, nahm sich meine wie kindisches Gekrakel aus. Ich konnte schneller laufen als alle anderen Mädchen in meinem Alter, aber von uns Geschwistern war ich immer das langsamste. Das Einzige, worin ich wirklich alle anderen übertraf, war mein Gedächtnis. Ich konnte mir ellenlange Listen merken und hatte die Geburtstage aller mir persönlich bekannten Personen im Kopf. Ich konnte alle Strophen selbst der längsten Weihnachtslieder, und beim Gedichteaufsagen glänzte ich wie niemand sonst. Und was erntete ich dafür? Spott.
    »Unser kleiner Papagei«, witzelte Vater, als ich letztes Jahr an Nikolaus ein sehr schwieriges Gedicht fehlerfrei aufsagte, und meine Geschwister fielen in sein Gelächter mit ein, obwohl sie natürlich genauso wenig wie ich wussten, was ein Papagei war.
    Doch nicht nur an Auswendiggelerntes erinnerte ich mich, sondern auch an diese Art von Demütigungen. Irgendwann, sagte ich mir, würde ich mich zu wehren wissen. Wenn sie schon längst vergessen hätten, was sie mir einst angetan hatten, würden in meinem Kopf all die Schmähungen, Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen weiterleben. Und dann würde ich es ihnen heimzahlen.
    Denn ich vergaß nie etwas.

[home]
3
    R aúl Almeida hatte früh lernen müssen, dass er nur überleben konnte, wenn er hart zu sich und hart zu anderen war. Er zeichnete sich durch Disziplin, Mut und Kompromisslosigkeit aus. Stolz war er auf diese Eigenschaften jedoch nicht. Wäre ein Dornenstrauch etwa stolz darauf, dank seiner Anspruchslosigkeit in der Wüste oder in einem kargen Gebirge überleben zu können? Seine Wesenszüge betrachtete Raúl Almeida daher nicht als »männliche Tugenden«, wie es ein Bekannter aus der Stadt einmal formuliert hatte, sondern einfach nur als nützlich. Ohne sie wäre er in einem Land wie diesem verloren gewesen. Die Provinz Rio Grande do Sul, im äußersten Süden des jungen Kaiserreichs Brasilien, war riesig, wild und gefährlich. Es lebten nur wenige Menschen hier, die meisten von ihnen Gaúchos wie er. Weder in den Weiten der Pampa noch in den küstennahen Urwäldern konnte man sich Fehler erlauben. Unbedachtheit endete oft tödlich. Und weil Raúl diese Lektion bereits als Kind schmerzhaft hatte lernen müssen, ließ er sich niemals zu Dingen hinreißen, die mit dem Verstand allein nicht zu erklären gewesen wären.
    Nur dieses eine Mal.
    Warum zum Teufel hatte er das halbtote Mädchen mit nach Hause genommen? Wieso war er nicht einfach in die nächstgelegene Ortschaft geritten, um nach einem Arzt oder wenigstens einem Apotheker zu fragen? Weil, redete er sich ein, erstens sein Stadthaus nur unwesentlich weiter als das Dorf entfernt lag. Weil zweitens die Heilkünste seiner alten Sklavin Teresa denen aller Ärzte vorzuziehen waren. Und weil drittens die Wahrscheinlichkeit, in dem kleinen armseligen Dorf einen Fachkundigen zu finden, ohnehin sehr gering war. Und dennoch. Hätte er das Mädchen einfach woanders abgeliefert, wäre er jetzt um eine Sorge ärmer. Was war nur in ihn gefahren? Seit wann hatte er solche unerklärlichen Anwandlungen von Nächstenliebe? War die Schwerverletzte etwa sein Problem?
    Ja, gestand er sich ein. Jetzt war sie es.
    Gestern war sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht, wie Teresa ihm freudestrahlend mitteilte, kaum dass er aus São Pedro zurückgekehrt war. Noch immer war er in Gedanken bei den unverschämten Forderungen des Viehhändlers, den er getroffen hatte, so dass er die gute Neuigkeit zunächst achselzuckend hinnahm. Doch als er das Zimmer betrat, in dem sie die junge Frau untergebracht hatten, rückte diese Angelegenheit plötzlich wieder in den Vordergrund.
    Die Patientin wirkte schläfrig. Sie sah ihn teilnahmslos unter halbgeöffneten Lidern an.
    Raúl trat näher an das Bett heran. Selbst er, der sonst nie mehr als Gleichmut und Gelassenheit an den Tag legte, konnte nun seine Neugier nicht verhehlen. Er war aufs äußerste gespannt, was das Mädchen sagte, wie es sich fühlen und wie es sich benehmen würde. In den ersten Tagen hatten sie sie unermüdlich gepflegt, hatten ihr Zuckerwasser eingeträufelt und abwechselnd an ihrem Bett gewacht und gebetet. Tagelang hatten sie auf ein jugendliches Gesicht geblickt, das ebenso weiß war wie der Kopfverband, den sie dem Mädchen angelegt hatten. Die blauen Flecken und Schürfwunden hoben sich krass von dieser bleichen Haut ab. Und immer wieder waren sie von dem Gefühl übermannt worden, dass all ihre Bemühungen

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