Das Mädchen am Rio Paraíso
über mich erfunden, hat meine kostbaren Schulhefte kaputt gemacht und Tinte auf meine Kleider gegossen – die meine Mutter sich vom Munde abgespart hatte, weil sie darauf bestand, dass wir alle zur Schule gingen, jedenfalls wenn nicht gerade Erntezeit war und alle mit anpacken mussten. Wir sollten es einmal besser haben als sie, sagte sie immer.
Alles, was eine Strafe für mich nach sich zog, bereitete Matthias ein ungeheures Vergnügen. Warum alle immer nur ihm glaubten und nicht mir, habe ich nie begriffen. Er war zwar ein begnadeter Lügner und Schauspieler, der, wenn es darauf ankam, aussehen konnte wie das reinste Unschuldslamm, während ich, schon allein in Erwartung der Strafe, die mich ungerechtfertigt treffen würde, immer rot wurde und dadurch schuldig wirkte. Dennoch wollte mir nie in den Kopf, wie ein solcher Unhold wie Matthias mit seinen bösen Streichen ungeschoren davonkommen konnte, zumal ich sicher nicht die Einzige war, die darunter zu leiden hatte. Oder doch? In unserem Haushalt war ich schließlich der einzige Mensch, der jünger, kleiner und schwächer war als er.
Mein einziger Trost bestand in dem Wissen, dass Matthias zwar Vater und Mutter, den Lehrer und den Pfarrer täuschen konnte, nicht aber den lieben Gott. Der sah ganz gewiss jede einzelne Sünde, die Matthias beging, und ebenso sicher sah er, dass ich ein braves Kind war. Ich würde eines Tages in den Himmel kommen, Matthias ganz bestimmt nicht.
An meinem siebten Geburtstag übertraf Matthias sich selbst in seiner Schlechtigkeit. Den demolierten Kreisel konnte ich noch hinnehmen, nicht aber das, was mittags passierte. Wir fünf Geschwister gingen gemeinsam aus der Schule nach Hause. Unterwegs machte Hildegard mal wieder dem Kelbelschen Knecht schöne Augen, die Jungen sammelten Kastanien auf und warfen damit nach den Kühen. Ich war dankbar dafür, dass sie sie immerhin nicht nach uns Mädchen warfen. Es war ein trüber Novembertag, und meine Vorfreude auf das Geburtstagsessen wuchs mit jedem Schritt, den wir uns unserem Hof näherten. Es war eine lange Strecke, aber wir waren das gewohnt. Wenn man an jedem Werktag mindestens zehn Kilometer zu Fuß geht, fünf zur Schule und fünf zurück, dazu noch all die anderen Gänge, die man so zu erledigen hat, empfindet man den Weg nicht mehr als allzu weit. Als wir endlich daheim eintrafen, strahlte die Mutter schon übers ganze Gesicht. Ich glaube, sie freute sich genauso sehr auf den Milchreis wie ich. Sonst gab es bei uns im Herbst immer nur Kartoffel- und Kohlgerichte. Mit feinen Gewürzen wurde geknausert, Zimt und Vanille kannten wir nur von Weihnachten – oder eben von einem unserer Geburtstage, denn jedes Kind durfte sich dann sein Lieblingsgericht wünschen. Ganz gleich, wie groß unsere Armut auch sein mochte, irgendwie gelang es der Mutter immer, an diesen Festtagen unseren jeweiligen Wunsch zu erfüllen.
Mutter drückte mich an sich, eine Geste, die sie sich für besondere Gelegenheiten aufsparte. Allein diese Umarmung entschädigte mich für alle Ungerechtigkeiten, die ich an diesem und an jedem anderen Tag des Jahres erlitten hatte. Wir gingen ins Haus, das erfüllt war von einem verheißungsvollen, magischen, köstlichen Duft. Drinnen wartete der Vater auf mich, der mich hochhob und sagte: »Sieben Jahre, bist ja schon ein richtiges junges Fräulein!« In diesem Augenblick hörten wir aus der Küche ein mächtiges Scheppern und Rumpeln. Sekunden später kam Matthias herausgerannt. »Ich wollte nur umrühren, damit der Milchreis nicht anbrennt!«, schluchzte er. »Die Mutter war ja draußen, und die Hildegard ist gleich rauf in ihre Kammer gerannt, und ihr wart hier auf dem Flur, und die anderen … da dachte ich, weil es doch ein so besonderes Essen und …« Weiter kam er nicht, weil ein Weinkrampf ihn schüttelte. Wir waren inzwischen alle zusammen in die Küche gegangen, um uns anzusehen, welches Missgeschick sich da zugetragen hatte. Und da sahen wir es: Der Topf mit dem Milchreis lag auf dem Boden, der weiße Brei ergoss sich über die Fliesen vor dem Herd.
»Du hast nicht nur umrühren wollen. Du hast genascht.« Der Vater sah Matthias tadelnd an.
Der wollte schon den Kopf schütteln, als er sich eines Besseren besann und nickte. Vielleicht war er sich der Tatsache bewusst, dass in seinen Mundwinkeln noch Reste seines Festschmauses klebten, vielleicht war er aber auch einfach so gerissen, ein kleineres Vergehen zuzugeben, um nicht eines größeren bezichtigt zu
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