Das Mädchen Ariela
entgegen … der hohen, aus mächtigen Quadern aufgeschichteten Mauer des Tempels Salomons.
Ein Kampf um ein Symbol.
Das Stalingrad des Heiligen Landes …
Die Mauer ist lang und hoch, verwittert, staubüberzogen, ewig. Hier weinten die Juden um ihren zerstörten Tempel, während die Legio nen des römischen Kaisers Titus im Gleichschritt durch Jerusalem zogen. Hier legten sie Opfergaben nieder, hier sprachen sie unmit telbar mit ihrem Gott, hier waren sie Moses und Hiob in einer Per son, hier breiteten sie ihre Seele aus, damit Gott in ihr lese wie in einem Buch.
Als die ersten israelischen Truppen mitten durch die Stellungen der jordanischen Armee zur Klagemauer brausten, als der Kurier Asarjah mit seinem Motorrad als erster vor der Mauer stand, umschwirrt vom Kugelregen, und ihm die Tränen über die Wangen rannen, als er mit ausgebreiteten Armen zu den Quadern rannte, sich an sie preßte und stammelnd den Staub von den Steinen küßte, veränderte sich die Weltgeschichte. Ein paar Minuten später hatte ein Offizier mit einigen Soldaten die heilige Mauer erklettert und steckte die Fahne Israels in einen Spalt zwischen den Felsblöcken.
Über das Donnern der Geschütze hinweg, das Motorengedröhn der Panzer und das Knattern der Maschinengewehre übertönend, stieg der Jubel Tausender Soldaten in den heißen Himmel Jerusalems. Sie umarmten sich, sie küßten sich, sie tanzten auf den Straßen und schwenkten ihre Waffen wie Fackeln. Sie rannten zu den Verwundeten und riefen ihnen zu: »Wir stehen an der Mauer! Wir haben sie! Wir haben sie!« Sie knieten neben den Sterbenden und beteten nicht zu Gott, sondern hoben ihre Köpfe hoch und sagten ihnen in das letzte Bewußtsein hinein:
»Wir haben unsere Mauer …«
Dann wurde es still, bis auf das Schießen jenseits des Tempels. Schlomo Goren, Fallschirmjäger-General und oberster Militär-Rabbiner, stand an der Mauer und sah sie mit einem langen Blick an. Dann hob er das Schofarhorn an die Lippen und blies das Signal, das heute eine ganze Welt vernahm.
Die Stadt Davids ist unser!
Gott, wir danken dir.
Als das Signal verhallt war und Schlomo Goren das Widderhorn absetzte, flogen die Stahlhelme der Soldaten hoch in die heiße Luft.
»Hedad! Hedad!« schrien sie. Und dann traten auch sie an die Mauer heran, küßten die Steine, breiteten die Arme aus und beteten.
»Gelobt seist du, unser Gott, der uns zurückführt nach Zion, der Jerusalem erbaute.«
Und während die Juden beteten, schossen die Jordanier weiter von Dächern und aus Fenstern, hinter Mauern und Barrikaden hervor. Lautlos sank einer der Betenden zusammen, von einer Kugel in den Rücken getroffen … man trug ihn in den Schatten, und dort starb er, den Blick auf die Mauer gerichtet, in den zitternden Händen das schmale Gebetbuch und noch den Kugelschreiber, mit dem er einen Zettel geschrieben und diesen in eine Ritze der Mauer gesteckt hatte.
»Mein Gott, schütze mich, Rachel, meine Frau, meine zwei Kinder Yosoa und Judith, und schütze mein Volk …«
Er starb, als an der Mauer die Soldaten die Nationalhymne sangen. Hatikwa heißt sie.
Hoffnung.
Er starb, als ein Rabbi unter den Soldaten die Hände hoch gegen den Himmel streckte und mit Tränen in den Augen rief: »Laßt uns beten für die, die gefallen sind für die Heiligung des Namens Gottes, bei der Befreiung der Heiligen Stadt Jerusalem. Laßt uns das Kadisch sprechen.«
Und dann sprachen sie das Totengebet, während um sie herum die jordanischen Scharfschützen in den Häusern lagen und auf alles schossen, was sich ohne Deckung bewegte.
In dieser Stunde, als der Soldat an der Klagemauer starb, hörte eine vom Siegeslauf der Israelis faszinierte Welt die Stimme eines israelischen Rundfunksprechers, der als einer der ersten mit den Soldaten die Mauer erreichte. Es war eine Stimme, in der es wie Schluchzen und Triumph klang:
»In diesen Minuten gehe ich auf die Klagemauer zu. Noch drei Sekunden … noch zwei Sekunden … noch einen Schritt … Ich bin an der Mauer! Leute, ich bin kein frommer Mensch, niemals war ich fromm, aber hier an der Tempelmauer … ich kann es einfach nicht fassen!«
Dann legte er sein Mikrophon weg, wie die anderen ihre Waffen, und betete.
Aus den Lautsprechern tönte der Sieg in alle Krankenzimmer. Auch Ariela lag weinend in ihrem Bett. Das ist der Sieg, dachte sie. Frieden wird über unser Land kommen, und wir werden heiraten können und Kinder bekommen, und das Land wird blühen und Gottes Garten
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