Das Mädchen Ariela
Etwa auf halber Wegstrecke wurde der Fels naß, und wenn es in Jerusalem einmal regnete, mußte man in diesem Gang knöcheltief durch Wasser waten.
Narriman und Mahmud faßten Dr. Schumann wieder unter und schleiften ihn die Treppe hinab. Dann rannte Mahmud zurück, verschloß die Tür und steckte die brennende Taschenlampe in den Gürtel, mit dem er seine wallende Dschellabah zusammengebunden hatte. Es war das einzige Licht in dieser steinigen, kühlen, lautlosen Unterwelt. Narriman hob die Schultern. Immer wenn sie durch diesen Gang ging, fror sie. Sie war eine mutige Frau, aber die Enge, die rauhen Felsen, die absolute Stille, das Bewußtsein, daß sie metertief unter den Straßen Jerusalems waren und es vielleicht nur einer großen Erschütterung bedurfte, damit der Gang einstürzte und zu einem schrecklichen Grab wurde, in dem man erstickte, erzeugten in ihr das Gefühl, dauernd schreien und sich die Kleider vom Leibe reißen zu müssen.
»Weiter!« sagte Narriman heiser. »Vielleicht haben wir Glück und erreichen den Ausstieg vor den Juden.«
Wieder packten sie Dr. Schumann unter beiden Achseln, holten tief Luft und schleiften ihn weiter. Seine Beine schlugen auf den unebenen, feuchten Boden.
»Er ist schwer!« keuchte Mahmud nach fünfzig Metern. »O Allah, hat der ein Gewicht!«
»Er ist ein Mann!« sagte Narriman deutlich. Mahmud verstand. Sein Gesicht wurde eine schiefe Fratze. Er ließ Dr. Schumann fallen, als dieser plötzlich zu stöhnen begann und noch halb benommen den Kopf hob. Mit der geballten Faust schlug ihm Mahmud gegen die Schläfe. Ächzend streckte sich der Körper des Arztes.
»Sind Sie verrückt?« schrie Narriman. Sie hatte die ganze Last festzuhalten und schwankte.
»Ein Mann!« Mahmud nahm wieder den anderen Arm Schumanns. »Er hat ein Köpfchen wie ein Lamm! Mit meinen Knöcheln kann ich ihn aufklopfen wie ein Ei!«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß er gesund bleiben muß!« Die Augen Narrimans glühten im Schein der Taschenlampe. »Wenn Sie ihm Schaden zufügen, werde ich Sie hängen lassen. Sie wissen, daß ich das kann!«
»Sie können alles, Narriman.« Mahmud seufzte. Sein Gesicht war im Halbdunkel wie zerknittert. »Ich hasse alles, worauf Ihr Wohlwollen fällt. Ich könnte die Blumen köpfen, an denen Sie vorbeigehen und die Ihre Beine sehen dürfen. Ich könnte die Fliege zerreißen, die sich im Duft Ihres Haares badet.« Er schrak zusammen. Dr. Schumann regte sich wieder. »Aha! Noch einmal!«
»Vorsichtig, Mahmud!« rief Narriman.
»Es geht nicht ohne Beulen, Narriman.« Mahmud schlug wieder zu. Es sah für Narriman wie ein leichter Schlag aus, dabei war gerade dieser Hieb von größerer Wucht als der erste. Nun wird er Ruhe geben bis zum Ausstieg, dachte Mahmud und sah in das verzerrte Gesicht des Arztes. Das Erstaunen war verschwunden … Schrecken hatte die Gesichtszüge völlig verändert.
Nach nochmals fünfzig Metern waren sie jenseits der Betonmauern und israelischen Befestigungen. Die Altstadt Jerusalems lag über ihnen, das Damaskustor, das Gewirr der Gassen und überbauten Gänge des mohammedanischen Viertels. Noch dreißig Meter … und neunundzwanzig Stufen führten wieder empor zum Licht. Der Gedanke daran war herrlich. Ein weiter Himmel, ein weites Land, eine Luft, die prall die Lungen füllte. Narriman hielt an und lehnte sich erschöpft gegen die Felswand. Dr. Schumann sank mit der Schulter auf den feuchten Boden.
»Sie kämpfen noch«, sagte Mahmud leise, als könne man sie hier unten hören.
Über ihnen zitterte die felsige Decke. Selbst in der Tiefe vernahm man das Grollen der Artillerie und spürte das Beben, wenn die Granaten einschlugen.
»Weiter!« keuchte Narriman und hob Schumann vom Boden. »Nur weiter! Ich bekomme keine Luft mehr.«
»Der Lärm ist vor uns. Die Juden sind über unseren Ausstieg hinaus!« Mahmud schlang seinen Gürtel um die Brust Schumanns und drängte dann Narriman zur Seite. Wie einen Sack schleifte er ihn hinter sich her. Narriman ging nebenher, nach Atem ringend, schwitzend und mit zitternden Beinen.
»Wir müssen nach Amman!« sagte sie. Ihre Stimme hatte keinen Klang mehr. Die Erschöpfung zerfraß sie wie Rost. »Wir müssen es, Mahmud!«
Am Ende ihrer Kräfte, erreichten sie die Treppen. Mahmud ließ Narriman mit Schumann unten und stieg allein hinauf. Dann schlug eine Eisentür zu. Narriman setzte sich auf die unterste Stufe, legte den Kopf Schumanns in ihren Schoß und wartete. Und da sie allein war, gestand
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