Das Mädchen Ariela
werden.
Sie schloß die Augen und träumte, während die Nationalhymne aus dem Lautsprecher erklang.
Ein Leben mit Peter. Ein ganzes Leben!
Das Meer rauscht. Kennst du Herzlia, den weißen Strand, die Dünen, die sich hinüberziehen nach Arsuf, der alten Festung, vor der Richard Löwenherz die Fahne des Propheten von Sultan Saladin eroberte?
Kennst du den See Genezareth? Wir werden am Ufer liegen und hinübersehen zu der Stelle, wo Christus seine Gleichnisse predigte, wo er Gerasa vom Wahnsinn heilte und die bösen Geister in eine Schweineherde fahren ließ, die sich brüllend in den See stürzte und ertränkte.
Kennst du Eilat? Das Wasser ist klar wie Kristall. In Booten mit gläsernem Boden kannst du ins Meer hinausfahren und unter dir die roten Korallen und die Schwärme bunter Fische sehen. Oh, unser Land ist schön, Peter. Und Gott liebt es. Wir werden glücklich sein.
Eine Stunde nach der Eroberung der Klagemauer stand Ariela auf, obwohl man es ihr verboten hatte, und ging ins Schwesternzimmer. »Ich möchte telefonieren«, sagte sie. »Kann man wieder telefonieren?«
»Wohin?« Die Schwester saß an einem Tisch und wickelte gewaschene Mullbinden auf. »In der Neustadt ist viel zerstört. Dort haben die Granaten der Jordanier über fünfhundert Menschen getötet.«
»Das Hanevi'im-Krankenhaus. Doktor Schumann. Wenn es möglich ist, Schwester. Bitte …«
Die Leitung war nicht zerstört, aber es dauerte lange, bis Ariela die Stelle bekam, die Dr. Schumann kannte. Eine nüchterne Frauenstimme meldete sich.
»Doktor Schumann hat gestern abend das Haus verlassen«, sagte sie. »Er ist noch nicht wieder zurück.«
»Noch nicht zurück?« Ariela atmete tief auf. Eine furchtbare Beklemmung legte sich auf sie und würgte ihre Stimme ab. »Wissen Sie, wohin er –«
»Nein! Wir wissen selbst nichts. Wir warten auch auf eine Nachricht. Wer sind Sie?«
»Ich bin Ariela Golan.«
»Ich notiere Ihren Namen. Soll Doktor Schumann Sie anrufen?«
Ariela lehnte die Stirn gegen die Wand. Eine Schwäche, einer leichten Betäubung gleich, machte es ihr schwer, sich aufrecht zu halten.
»Wenn Sie meinen Namen nennen, weiß er alles«, sagte sie mit Mühe. Dann legte sie den Hörer auf und wandte sich zu der Schwester um.
»Er ist nicht wiedergekommen«, sagte sie leise. »Er ist weggegangen … und nicht wiedergekommen. O Gott, o mein Gott … er ist nicht wiedergekommen …«
»Wir wollen nicht das Schlimmste denken, Fräulein Golan.«
Die Schwester schob ihr einen Stuhl hin und holte eine Tasse kalten Tee mit Zitronensaft. Als Ariela den Kopf schüttelte, machte sie gar nicht den Versuch, sie zu überreden … sie setzte ihr einfach die Tasse an die Lippen, kippte sie und zwang sie so, den Tee zu trinken.
»Danke«, sagte Ariela, als sie die Tasse ausgetrunken hatte. »Ich danke Ihnen. Wissen Sie, wo es die meisten Toten gegeben hat?«
»Man sagt, die Jordanier hätten die ›Kirche des Hinscheidens Mariae‹ völlig zerstört. Das israelische Museum wurde beschädigt, und ein Krankenhaus wurde auch mehrfach getroffen …«
»Ein Krankenhaus?« Ariela wandte sich ab. In der Schulterwunde zuckte der Schmerz. »Ein Krankenhaus …«
»Er braucht ja nicht gerade in diesem Augenblick dort gewesen zu sein.« Die Schwester sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr nachmittags. Aus dem Radio kamen neue Meldungen.
Die Panzer erobern die Sinai-Wüste.
Die ägyptische Luftwaffe ist am Boden zerstört worden.
Im Gazastreifen blutige Verfolgungsschlachten.
Die syrische Artillerie beschießt Nazareth.
Aus der Negev-Wüste heraus stoßen Panzerkeile unaufhaltsam zum Suezkanal.
Sieg! Sieg!
Die Krankenschwester zeigte auf das Radio. »Sie sollten mit uns allen jubeln, Fräulein Golan!« rief sie. Ariela ging langsam in ihr Zimmer zurück. Recht hat sie, ich müßte jubeln, dachte sie. Die große Stunde meines Volkes ist gekommen.
Aber ich bin leer. Leer wie eine taube Nuß. Ich bin so leer, daß die Öde der Wüste laut wirkt wie eine Großstadt am Freitagabend.
Er ist weggegangen und nicht zurückgekommen …
Und plötzlich haßte sie den Krieg.
Sie hielt mit den Händen die Ohren zu, um die Siegesmeldungen nicht mehr zu hören, und in ihrem Zimmer stellte sie sich an das Fenster und blickte finster hinaus auf die in der Hitze flimmernde Stadt.
Hinter dem Berg Zion, im Hinnom-Tal, ging die Sonne unter. Über dem Ölberg schwebte ein rosa Schleier. Die Luft kochte im Abendrot. Von fern klang Gewehrfeuer herüber. Um das
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