Das Mädchen auf den Klippen (German Edition)
ist etwas Wahres dran“, pflichtete ihr Ireen Baker bei. Sie legte den Arm um ihre Schwiegertochter. „Wir haben gerade mit Doktor Brown gesprochen, Janice. Er ist mit den Fortschritten, die du machst, sehr zufrieden.“
Janice wies auf ihre Beine. „Fortschritte? Es ist noch ungewiss, ob ich jemals wieder richtig laufen kann.“
„Du musst nur ganz fest daran glauben, Janice.“ Simon Baker legte eine Hand auf ihre Schulter. „In einer Woche wirst du in die Reha-Klinik verlegt und ich bin überzeugt, dass du dir große Mühe geben wirst.“ Er sah sie eindringlich an. „Edward und David würden nicht wo llen, dass du dich aufgibst.“
Natürlich hatte er recht! Schon aus diesem Grund musste sie kämpfen. Doch nach wie vor konnte sie sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne ihren Mann und ihrem Sohn aussehen sollte. Janice wusste, sie würde nicht mehr in ihrer Wohnung in Mayfair leben können. Es würde ihr unerträglich sein, durch die leeren Räume zu gehen und zu wissen, dass sie vergeblich auf Edwards und Davids Rückkehr wa rtete.
Ireen Baker trat an den Schrank und nahm den Mantel ihrer Schwiegertochter heraus. Eine Krankenschwester half ihr, Janice den Mantel anzuziehen. Sie hatten ihr versprochen, mit ihr an diesem Nachmittag den Friedhof zu besuchen.
Die junge Frau lehnte mit geschlossenen Augen im Rollstuhl, während ihre Schwiegermutter sie zum Aufzug fuhr. Sie öffnete auch nicht die Augen, als die Kabine nach unten glitt und sie in der Halle ankamen. Sie wollte weder etwas hören, noch sehen. Manchmal erschien es ihr unfassbar, wie um sie herum das Leben pulsierte, so, als sei nichts geschehen.
Ein junger Mann, der als Pfleger im Krankenhaus arbeitete, begleitete sie zum Parkplatz hinaus. Er half ihnen Janice aus dem Rollstuhl zu heben und auf den Beifahrersitz des Wagens zu setzen, dann klappte er den Rollstuhl zusammen und verstaute ihn im Kofferraum. „Haben Sie nachher jemanden, der Ihnen hilft?“, erkundigte er sich.
„Nein“, erwiderte Ireen Baker.
„Ich habe jetzt frei“, sagte er. „Wenn Sie wollen, begleite ich Sie.“
„Das wäre wirklich sehr nett von Ihnen, Michael“, meinte Simon Baker.
„Ich habe ohnehin nichts vor“, bemerkte er und setzte sich in den Fond des Wagens.
Seit Generationen waren alle Bakers auf dem Friedhof von Canterbury beigesetzt worden. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie ihn erreichten. Ireen Baker, die den Wagen steuerte, fuhr sehr vorsichtig, denn die Straßen waren glatt und sie konnte nicht vergessen, wie ihr Sohn und ihr Enkel ums Leben gekommen waren.
Sie hatten schon fast die alte Stadt erreicht, als es zu schneien aufhörte. Ireen beschloss, es als gutes Omen zu nehmen. Sie machte sich große Sorgen um ihre Schwiegertochter. Seit sie Janice kannte, waren sie Freunde. Der Optimismus der jungen Frau und ihre Fröhlichkeit hatten nicht nur Edward, sondern auch sie selbst und Simon angesteckt. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, dass Janice jemals wieder lachen würde. Edwards und Davids Tod schien jeglichen Lebensmut in ihr ausgelöscht zu haben.
Mrs. Baker bog von der Hauptstraße zum Friedhof ab. Kurz darauf erreichten sie einen von Trauerweiden umstandenen Parkplatz. „Wir sind da, Lovely“, sagte sie völlig überflüssigerweise und berührte sanft Janices Knie.
Michael half den Bakers den Rollstuhl aufzustellen und Janice hineinzusetzen. Er blieb beim Wagen zurück, weil er ahnte, dass sie allein sein wol lten.
Das Grab lag am Ende einer langen Reihe, die der jungen Frau endlos erschien. Der Hügel war mit unzähligen Kränzen und Gestecken bedeckt. Ein einfaches Holzkreuz mit dem Namen ihres Mannes und ihres Sohnes stand hinter ihm.
Janice griff nach den Blumen, die auf ihrem Schoß lagen. Ireen Baker fuhr den Rollstuhl so nahe möglich an den Grabhügel heran, dann traten sie und ihr Mann zurück, um ihrer Schwiegertochter etwas Zeit zu lassen, mit sich und ihren Gedanken allein zu sein.
Janice beugte sich vor und legte die Blumen auf das Grab. Sie dachte daran, wie sie Edward auf ihrer ersten Ausstellung kennen gelernt hatte. Damals, mit achtzehn, hatte sie noch davon geträumt, Karriere als Malerin zu machen, doch später waren ihr nur noch ihr Mann und ihr Sohn wichtig gewesen. Wie hatten sie sich über Davids Geburt gefreut! Ihr fiel die Kreuzfahrt ein, die sie für das nächste Jahr geplant hatten, und sie dachte an all die vielen Dinge, die Edward und sie verband, vielmehr verbunden hatten. Es war vorbei,
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