Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
gelernt.
Grania und Matt fällt es bedeutend schwerer als mir, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Ich bin ruhig, weil ich mich glücklich schätzen kann. Ich weiß, dass ich nicht allein sein werde, wenn ich den dünnen Vorhang zwischen Leben und Tod durchschreite; auf der anderen Seite erwarten mich zwei Menschen mit offenen Armen.
Geister oder Engel, egal, wie man sie nennen will: Sie existieren. Ich habe sie mein ganzes Leben lang gesehen, jedoch gelernt, nicht darüber zu sprechen.
Wie bereits am Anfang erklärt, ist diese Geschichte nicht für die V eröffentlichung bestimmt. Meine Eltern haben mich gefragt, was ich da schreibe; ich habe es ihnen nicht verraten. Die Geschichte gehört bis zum Ende, das nicht mehr lange auf sich warten lässt, mir.
Ich freue mich auf den nächsten Teil meiner Reise. Wer weiß, welchen Zauber ich jenseits des Vorhangs entdecken werde?
Es wird Zeit, mich zu verabschieden.
Epilog
Dunworley Bay, West Cork, Irland, Januar
Grania stand auf der Klippe, wo ihr der Wind um die Ohren blies wie an jenem Nachmittag acht Jahre zuvor bei ihrer ersten Begegnung mit Aurora.
Damals hatte sie um ihr Baby getrauert. Jetzt trauerte sie wieder um ein Kind.
»Warum?«, brüllte sie den Wellen entgegen, die sich an den Felsen unter ihr brachen.
Bilder von Aurora tauchten vor ihrem geistigen Auge auf: tanzend, auf den Klippen und am Strand herumspringend … Energie und Lebenshunger hatten Auroras Wesen ausgemacht. In den acht Jahren, in denen Grania die Mutterrolle für sie innegehabt hatte, war Aurora kaum jemals traurig oder negativ gestimmt gewesen. Sogar in den letzten Monaten, in denen sie immer schwächer geworden war, hatte Aurora sie von ihrem Krankenhausbett aus angestrahlt.
Grania erinnerte sich, wie tapfer Aurora genau an dieser Stelle gewesen war, als Grania ihr gesagt hatte, dass ihr Vater gestorben sei. Auch darin hatte Aurora trotz ihres Kummers das Positive gesehen.
Aurora hatte nie »Warum?« gefragt oder sich über die Ungerechtigkeit des Lebens beklagt. Vielleicht deshalb, weil sie fest davon überzeugt war, dass das Ende des Lebens hier auf Erden nicht das endgültige Ende bedeutete.
Grania hielt den ungeöffneten Brief in der Hand, den Aurora ihr hinterlassen hatte.
Sie ging zu dem grasbewachsenen Felsen, von dem aus sie so oft aufs Meer hinausgeblickt hatte. Mit von der Kälte blauen Fingern riss sie den Brief auf.
Mummy,
ich wette, ich weiß, wo Du bist, wenn du diese Zeilen liest: auf Deinem Lieblingsfelsen oben auf den Klippen von Dunworley. Ich werde Dir fehlen, Du wirst Dich fragen, warum ich nicht mehr da bin, und Du wirst traurig sein. Einen geliebten Menschen zu verlieren ist immer schmerzhaft, am schlimmsten jedoch dürfte der Verlust eines Kindes sein, weil das nicht der natürlichen Ordnung der Dinge entspricht. Aber die Vorstellung von der Zeit ist eine menschliche Erfindung. Ich glaube, die Römer haben den ersten Kalender mit Tagen, Monaten und Jahren ersonnen. Mir kommt es vor, als hätte ich ewig gelebt.
Vielleicht habe ich das auch.
Ich hatte nie das Gefühl, ganz von dieser Welt zu sein. Eines Tages enden wir alle dort, wo ich jetzt bin. Unser Körper macht uns füreinander sichtbar; unsere Seele stirbt nicht. Wer weiß schon, ob ich Dir nicht nahe bin und um Dich herumtanze, wenn Du dort oben auf dem Felsen sitzt, auch wenn Du mich nicht sehen kannst?
In Deinem Kummer darfst Du nicht vergessen, Daddy und meinen kleinen Bruder Florian zu lieben. Bitte drück Oma und Opa und Shane ganz fest für mich. Sag ihm, ich passe von hier aus auf, dass er sich gut um Lily kümmert, die allmählich alt wird.
Versuch mir zu glauben, dass nichts, am allerwenigsten die Liebe, jemals endet.
Wahrscheinlich hat Onkel Hans Dir inzwischen gesagt, dass ich Dir Dunworley House und Cadogan House vermacht habe. Sie sind Teil unserer gemeinsamen Familiengeschichte. Das übrige Geld … Onkel Hans weiß, was damit geschehen soll. Ich vertraue darauf, dass er bei der Einrichtung meiner Stiftung seine übliche Umsicht walten lässt.
Ich habe ein Geschenk für Dich. Es liegt in der Schublade in Daddys Arbeitszimmer, die immer verschlossen ist – Du weißt schon, welche ich meine. Ich habe es für uns und unsere beiden Familien geschrieben, als Beweis unserer über hundert Jahre währenden Verbindung.
Mummy, es gibt Neuigkeiten! In Deinem Bauch entsteht ein kleines Wesen, ein Mädchen.
Mummy, danke für alles.
Bis bald.
Deine Aurora
Als Grania weinend den Blick
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