Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
Lawrence Lisle gebeten, Dir diesen Brief zu geben, wenn ich nicht erscheinen sollte. Ich weiß nicht, was er Dir von Deiner Mutter erzählt hat, aber Du musst erfahren, dass ich Dich über alles liebe. Deswegen sollst Du, solange unsere russische Heimat sich in Aufruhr befindet, in Sicherheit sein. Es wäre leicht für mich gewesen, Lawrence nach England zu begleiten und die Gefahr hinter mir zu lassen wie so viele meiner russischen Landsleute. Doch ich muss von Paris in meine Heimat zurückkehren, weil Dein Vater in großer Gefahr schwebt. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Mir ist klar, dass ich damit die sofortige Festnahme, vielleicht sogar den Tod, riskiere.
Dein Vater stammt aus der bedeutendsten Familie Russlands; wir mussten unsere Liebe verbergen. Ich schäme mich, Dir zu gestehen, dass er verheiratet ist.
Du bist die Frucht unserer Liebe.
Die Schuhe, die ich Dir beilege, gehören mir. Ich bin Kirow-Ballerina und in unserer Heimat berühmt. Dein Vater hat mich in Schwanensee tanzen gesehen und sich in mich verliebt.
Ich halte mich in Paris auf, weil ich weiß, dass meine Verbindung zur Zarenfamilie Dich und mich gefährdet. Deshalb habe ich mit Diaghilews Ballets Russes Kontakt aufgenommen, um Russland verlassen und Dich in Sicherheit bringen zu können.
Mein lieber englischer Freund Lawrence (ich glaube, er ist auch ein bisschen in mich verliebt!) hat mir versprochen, Dich nach London mitzunehmen und sich um Dich zu kümmern.
Liebes Kind, ich hoffe, dass dieser Wahnsinn in Russland bald ein Ende findet, damit ich zu Dir nach London kommen, Dich in unsere Heimat zurückbringen und Dich Deinem Vater vorstellen kann. Doch solange dort alles im Chaos versinkt, muss ich meine eigenen Gefühle hintanstellen.
In einigen Stunden wird Lawrence Dich holen. Es liegt in der Hand Gottes, ob wir uns wiedersehen werden, also verabschiede ich mich hiermit von Dir, Anastasia, und wünsche Dir alles Gute für die Zukunft.
Vergiss nie, dass Du ein Kind der Liebe bist.
Deine Dich liebende Mutter Leonora
Schweigen senkte sich auf die Küche herab.
Matt räusperte sich.
Grania legte die Arme um Aurora.
»Ist das nicht wunderschön?«, fragte Aurora mit leiser Stimme.
»Ja.«
»Leonora ist in Russland gestorben, stimmt’s?«
»Wahrscheinlich. Wenn sie tatsächlich berühmt war, können wir herausfinden, was aus ihr geworden ist. Und wer Anastasias Vater war«, fügte Grania hinzu.
»Wenn Anastasias Vater der russischen Zarenfamilie angehörte, wurde er, kurz nachdem Leonora diesen Brief geschrieben hatte, mit seiner Familie erschossen«, erklärte Matt.
»Leonora hätte mit Lawrence und ihrem Baby nach England entkommen können«, sagte Aurora. »Sie hat es nicht getan, aus Liebe zu Anastasias Daddy.« Aurora schüttelte den Kopf. »Wie schrecklich: Sie musste ihr Baby einem Fremden überlassen.«
»Ja«, pflichtete Grania ihr bei. »Aber vermutlich hat Leonora nicht damit gerechnet, dass sie sterben würde. Wir planen immer so, als würden wir ewig leben. Sie hat das Bestmögliche getan und Anastasia in Sicherheit gebracht.«
»Keine Ahnung, ob ich so mutig gewesen wäre«, meinte Aurora.
Matt legte einen Arm um Granias Schulter und küsste Aurora auf die Stirn. »Weil du noch nicht weißt, welche Opfer der Mensch der Liebe wegen bringt. Stimmt’s, Grania?«
»Ja«, antwortete Grania lächelnd.
Aurora
Ist das nicht das perfekte Happy End?
Grania und Matt wieder zusammen und den Rest ihres Lebens finanziell abgesichert. Und ich bei ihnen, meinen Traum, eine große Ballerina zu werden, vor Augen.
Was könnte das Glück noch vollkommener machen?
Vielleicht ein Baby für sie, also ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester für mich?
Ein Jahr später kam tatsächlich ein Kind.
Ich spiele mit dem Gedanken, hier aufzuhören, um den Schluss nicht zu verderben.
Aber damit wäre meine Geschichte nicht zu Ende.
Vermutlich ist ein falscher Eindruck von mir entstanden. Ich bin nicht alt, obwohl mein Körper sich so anfühlt.
Anders als Prinzessin Aurora im Märchen werde ich nicht nur hundert Jahre lang schlafen, sondern bis in alle Ewigkeit, und kein schöner Prinz wird mich wecken …
Jedenfalls nicht hier auf Erden.
Ich will mich nicht beklagen. Sechzehn Jahre gutes Leben sind besser als gar keines.
Ich werde sterben, ohne die Liebe kennengelernt zu haben.
Immerhin hat meine Krankheit es mir ermöglicht, die Geschichte meiner Familie aufzuzeichnen. Dabei habe ich viel über das Leben
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