Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
ihre Mutter unten den Tisch fürs Frühstück, ihr Vater döste in einem Sessel vor dem Fernseher, und ihr Bruder Shane war im örtlichen Pub. Er bewirtschaftete mit seinem Vater die zweihundert-Hektar-Farm, hauptsächlich mit Milchkühen und Schafen. Trotz seiner neunundzwanzig Jahre schien »der Junge«, wie Shane immer noch liebevoll genannt wurde, keinen eigenen Haushalt gründen zu wollen. Frauen kamen und gingen in seinem Leben, doch kaum eine fand den Weg über die Schwelle seines Elternhauses. Obwohl Kathleen die Stirn darüber runzelte, wusste Grania, dass sie ohne ihren Sohn verloren gewesen wäre.
Grania lauschte vom Bett aus auf den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, und hoffte, dass die arme Aurora Lisle im warmen, sicheren Haus ihres Vaters war. Sie blätterte gähnend in einem Buch. Vielleicht machte die frische Luft hier sie müde; in New York schlief sie selten vor Mitternacht.
Grania konnte sich an kaum einen Abend ihrer Kindheit erinnern, an dem ihre Mutter nicht zu Hause gewesen wäre. Wenn sie tatsächlich einmal beschloss, über Nacht wegzubleiben, weil sie sich um einen kranken Verwandten kümmern musste, plante sie ihre Abwesenheit generalstabsmäßig. Und Granias Vater hatte ihres Wissens keinen einzigen Abend seiner vierunddreißig Ehejahre außer Haus verbracht. Er stand jeden Morgen um halb sechs zum Melken auf und kam erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder heim. Die beiden wussten immer genau, wo der andere sich gerade aufhielt. Ihre Leben waren untrennbar miteinander verbunden, nicht zuletzt durch die Kinder.
Als Grania und Matt acht Jahre zuvor zusammengezogen waren, hatten sie fest damit gerechnet, eines Tages Kinder zu bekommen. Trotzdem hatten sie wie alle modernen Paare das Dasein genossen und Karriere gemacht.
Eines Morgens war Grania aufgewacht und in Jogginghose und Kapuzenshirt geschlüpft, um den Hudson entlang zum Battery Park zu laufen und sich an den Winter Gardens eine Latte und einen Bagel zu genehmigen. Dort war es passiert: Sie hatte in den Kinderwagen beim Nachbartisch geschaut und plötzlich das überwältigende Bedürfnis verspürt, das winzige Wesen aus dem Wagen zu holen und an ihre Brust zu drücken. Die Mutter hatte ihren Blick mit einem nervösen Lächeln quittiert und war aufgestanden und gegangen, während Grania, bestürzt über die Emotionen, die der Säugling in ihr auslöste, nach Hause joggte.
In der Erwartung, dass diese Gefühle sich verflüchtigen würden, hatte sie den Tag in ihrem Atelier verbracht und aus braunem Ton eine Figur geformt, eine Auftragsarbeit – ohne die Emotionen loszuwerden.
Um sechs hatte sie das Atelier verlassen, sich für die Vernissage am Abend umgezogen, sich ein Glas Wein eingeschenkt und war an das Fenster getreten, das auf die funkelnden Lichter von New Jersey auf der anderen Seite des Hudson River ging.
»Ich will ein Kind.«
Grania hatte einen großen Schluck Wein genommen und es noch einmal ausgesprochen, um sicher zu sein.
Die Worte hatten nach wie vor richtig geklungen und ganz natürlich, als hätten der Gedanke und das Bedürfnis schon seit Ewigkeiten in ihr geschlummert.
Dann war Grania zu der Vernissage gegangen und hatte Small Talk mit den üblichen Künstlern und Sammlern gemacht, während sie über die praktischen Aspekte ihrer Entscheidung nachdachte. Würden sie umziehen müssen? Vermutlich nicht gleich – ihr Loft in TriBeCa war geräumig, und Matts Arbeitsraum ließ sich ohne Weiteres in ein Kinderzimmer verwandeln. Er nutzte ihn ohnehin nur selten und saß lieber mit seinem Laptop im Wohnbereich. Das Loft befand sich im dritten Stock; der Lastenaufzug war groß genug für einen Kinderwagen, und der Battery Park mit seinem gut ausgestatteten Spielplatz befand sich gleich in der Nähe. Grania hatte ihr Atelier ebenfalls zu Hause, so dass sie, selbst wenn sie ein Kindermädchen einstellen müssten, im Bedarfsfall immer schnell zur Stelle wäre.
Später hatte Grania sich in das große leere Bett gelegt und frustriert geseufzt, weil sie Matt, der beruflich unterwegs war und erst in ein paar Tagen zurückkommen würde, ihre Pläne noch nicht mitteilen konnte. So etwas ließ sich nicht am Telefon verkünden.
Matt war bei seiner Rückkehr genauso begeistert über die Idee gewesen wie sie, und sie hatten sich sofort an die Verwirklichung des Plans gemacht. Das Kind würde ihre Beziehung zementieren wie die von Granias Eltern und aus ihnen eine richtige Familie machen.
Grania lauschte von
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