Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
beide eine Überraschung. Mit fast vierzig stellte Lily fest, dass sie schwanger war. Die Ärzte meinten, ein Kind, um das Lily sich kümmern müsste, würde ihr möglicherweise helfen, solange sie unter ständiger Beobachtung stünde. Lilys Zustand blieb ja über längere Zeiträume hinweg stabil, wenn sie ihre Medikamente nahm. Obwohl ich natürlich in ständiger Angst vor Stimmungsumschwüngen lebte. Ich konnte ihr nicht vertrauen, dass sie ihre Tabletten zuverlässig schluckte. Sie hasste ihre Zombiepillen, wie sie sie nannte. Sie verhinderten zwar die Abstürze, dämpften jedoch auch die Glücksmomente. Diese künstliche Balance empfand sie so, als würde sie hinter einem Nebelvorhang leben.«
»Die Arme«, bemerkte Grania. »Verbesserte sich ihr Zustand tatsächlich, als Aurora kam?«
»Ja. In Auroras ersten drei Lebensjahren war Lily die perfekte Mutter. Nicht häuslich wie Sie, Grania«, erklärte Alexander lächelnd. »Lily hatte immer Bedienstete, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen, und konnte sich voll und ganz auf ihr kleines Mädchen konzentrieren. Damals hoffte ich noch auf eine glückliche Zukunft. Aber diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch.« Alexander strich sich die Haare zurück. »Leider litt Aurora am meisten unter der Situation. Einmal kam ich nach Hause und fand Lily schlafend vor, ohne Aurora. Ich weckte Lily auf, um sie zu fragen, wo Aurora sei. Lily antwortete, sie wisse es nicht. Ich entdeckte Aurora völlig durchgefroren und verängstigt auf den Klippen. Die beiden waren spazieren gegangen, und Lily hatte ihre Tochter einfach vergessen.«
»O Gott!«
»Da wurde mir klar, dass ich Aurora nie wieder mit Lily allein lassen konnte. Kurz darauf musste sie zurück in die Anstalt. Von da an sah Aurora ihre Mutter nur noch selten. Wir gingen nach London, so dass ich beruflich näher am Geschehen war und es auch nicht so weit zu Lilys Klinik hatte. Wie Sie wissen, hatte Aurora eine ganze Reihe erfolgloser Hauslehrerinnen. Als Lilys Zustand sich stabilisierte, bestand sie darauf, wieder nach Dunworley House zurückzukehren. Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen, aber ihr gefiel es hier so gut. Sie behauptete, die Schönheit der Landschaft würde ihr helfen.«
»Meine Mutter sagt, sie hätte sich das Leben genommen«, bemerkte Grania mit leiser Stimme.
»Ja.« Alexander stützte seufzend den Kopf in die Hände. »Bestimmt hat Aurora sie dabei beobachtet. Ich habe damals Schreie aus Lilys Schlafzimmer gehört und Aurora im Nachthemd auf dem Balkon stehen und auf die Klippen deuten sehen. Zwei Tage später wurde die Leiche ihrer Mutter am Strand von Inchydoney angeschwemmt. Ich habe keine Ahnung, wie sich der Tod und die Unberechenbarkeit Lilys auf Aurora auswirkten.«
Grania legte tröstend die Hand auf die von Alexander. »Angesichts dessen, was Aurora erlebt hat, ist sie erstaunlich ausgeglichen.«
»Finden Sie? Die Ärzte machten sich Sorgen um Aurora. Einige meinten, sie hätte die psychische Labilität ihrer Mutter geerbt. Auroras Halluzinationen von Lily auf den Klippen, ihre Albträume … Man könnte das als Hinweis auf spätere Probleme deuten.«
»Vielleicht handelt es sich aber auch schlicht um die Reaktion eines traumatisierten Kindes, das versucht, mit dem Verlust seiner Mutter fertigzuwerden.«
»Wollen wir’s hoffen.« Alexander lächelte. »Sie scheint in der Zeit mit Ihnen große Fortschritte gemacht zu haben. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Grania.«
»Wissen Sie, ob Lily Kindheitstraumata erlebt hat?«, fragte Grania. »Das kann später Störungen hervorrufen.«
»Für eine Bildhauerin kennen Sie sich mit dem Thema ziemlich gut aus«, stellte Alexander fest.
»Mein … Exfreund war Professor der Psychologie, spezialisiert auf Kindheitstraumata«, gestand Grania.
»Verstehe.« Alexander nickte. »Doch zurück zu Ihrer Frage: Ich weiß sehr wenig über Lilys Kindheit. Kennengelernt habe ich sie in London. Sie redete nicht gern über ihre Vergangenheit und hat mir nur erzählt, dass sie in diesem Haus geboren wurde und als Kind hier gelebt hat.«
»Ich glaube, meine Mutter erinnert sich an die Zeit«, sagte Grania zögernd.
»Tatsächlich? Könnte sie mir mehr darüber erzählen?«
»Sie spricht nicht gern über diese Dinge. Ziemlich sicher ist damals etwas Schlimmes passiert, denn immer wenn ich Lily erwähne, reagiert sie negativ.«
»Oje.« Alexander hob die Augenbrauen. »Klingt nicht gut. Trotzdem wäre ich dankbar für jede Information, die
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