Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Mit dem Tritt hat er mir fast den Magen zerquetscht, der Schwachkopf.«
»Entschuldige dich bei ihm«, befahl der Kleine dem Idioten.
»Enschuldige, Mercurio …«, wimmerte der Riese. »Bitte Ercole nich abstech’n.«
»Ich stech dich schon nicht ab, Idiot«, sagte Mercurio und richtete sich wieder auf.
Der Kleine stieß den Riesen in die Seite. »Geht es nicht in deinen Kopf, dass du so stark bist wie ein Elefant?«, fragte er ihn.
»Doch, Zolfo …«, erwiderte der Riese kleinlaut und nickte eifrig. »Ercole Idiod.«
»Ja, ja, schon gut«, murrte Zolfo. Dann wandte er sich an Mercurio. »Du wirst schon sehen, aus dem wird noch was …«
In dem Moment hörte man von der Piazza Sant’Angelo in Pescheria einen entsetzten Schrei: »Man hat mich beraubt! Haltet den Dieb!«, rief der Kaufmann. Daraufhin lachte die Menge schallend, denn nun hatten die Leute begriffen, was sich zugetragen hatte, und amüsierten sich nur umso mehr. »Ich bin ruiniert! Haltet den Dieb! Verfluchte Mistkerle! Verflucht sollt ihr alle sein!« Und je verzweifelter Shimon Baruch schrie, desto lauter und dröhnender wurde das Gelächter, wie im Theater.
»Verschwinden wir von hier«, sagte Mercurio.
Sie kletterten über den Damm gegenüber der Tiberinsel, und während sie zu einem zwischen Brombeergestrüpp verborgenen Kanaldeckel hinabstiegen, gesellte sich das Mädchen mit den kupferroten Haaren und der Alabasterhaut zu ihnen. »Wir haben ein Abendessen«, verkündete sie stolz und zeigte den anderen die fünf Makrelen, die sie gestohlen hatte.
»Wir haben viel mehr als das, Benedetta«, sagte Zolfo.
Mercurio holte den Beutel voller Münzen hervor, den sie dem Kaufmann gestohlen hatten. Dabei bemerkte er, dass auf das Leder eine rote Hand aufgemalt war. Er löste das Band, hockte sich hin und schüttete den Inhalt auf den Boden. Das Rot der untergehenden Sonne ließ die Münzen wie glühende Kohlen aufblitzen.
»Die sind ja aus Gold!«, rief Zolfo aus.
Mercurio hielt einen Moment überrascht inne. Dann zählte er schnell die Münzen und teilte sie in zwei Haufen, einen kleinen für die anderen und einen doppelt so großen für sich.
»Aber wir sind zu dritt …«, beschwerte sich Zolfo.
»Es war mein Plan«, entgegnete Mercurio barsch. »Ich bin hier der Betrüger, ihr an meiner Stelle würdet sofort geschnappt.« Dann musterte er sie von oben herab. »Ihr seid bloß zwei, oder besser gesagt anderthalb, denn der Schwachkopf zählt nur halb. Und dazu ein Mädchen, das Schmiere steht.« Er steckte den eigenen Anteil in den Beutel und verschloss ihn wieder. Dann stand er auf und zeigte auf die Münzen am Boden. »Das ist euer Anteil, und ich war mehr als großzügig. Wenn euch etwas nicht passt, dann arbeitet doch allein.« Er starrte sie herausfordernd an.
»Das geht schon in Ordnung«, sagte Benedetta und hielt seinem Blick stand.
Zolfo bückte sich und sammelte die Münzen ein.
»Zumindest merkt man, wer bei euch das Sagen hat«, sagte Mercurio grinsend.
»Willst du mit uns die Fische essen?«, fragte ihn Benedetta.
Zolfo sah Mercurio hoffnungsvoll an.
»Ich esse nicht gern in Gesellschaft«, antwortete Mercurio abweisend. »Wenn ich euch brauche, weiß ich ja, wo ich euch finde.« Er hob den Kanaldeckel hoch. »Und erzählt Scavamorto nichts davon, sonst nimmt er euch alles weg.«
»Wir könnten doch bei dir bleiben«, schlug Zolfo hoffnungsvoll vor.
»Verschwindet«, fuhr ihn Mercurio an. »Ich komm allein zurecht. Und das hier ist mein Platz.«
Und damit schlüpfte er in den Abwasserkanal, in dem er zu Hause war.
2
A ls Mercurio hörte, wie sich die anderen schweigend durch den Matsch schlurfend entfernten, zog er den Kanaldeckel hinter sich zu und kroch auf allen vieren durch den niedrigen, engen Gang vorwärts. Der mit kleinen viereckigen Steinen gepflasterte Boden war mit glitschigen Algen überzogen. Sobald der schlaksige Junge die ebene Platte ertastete, die er so gut kannte, stand er auf und neigte den Kopf nach links, denn er wusste, dass an dieser Stelle in der Decke ein Stein hervorstand.
Hier unten war vom Lärm der Heiligen Stadt nichts mehr zu hören. Es herrschte Stille. Eine dauerhafte Stille, die nur vom beständigen Tropfen des Wassers und dem hastigen Trippeln der Ratten durchbrochen wurde. Mercurio fühlte sich plötzlich leer, Eiseskälte erfüllte seinen Magen. Er drehte sich um und kroch noch einmal bis zum Kanaldeckel zurück, um den anderen zu sagen, dass
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