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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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eine Art langgestreckter Salon in den alten Häusern der mediatori d’affari, der Unterhändler und Geschäftsvermittler. Er verfügt wie die weitläufigen Galerien der Adelshäuser über eine hohe Gewölbedecke und wird an seinen beiden Enden von jeweils dreigeteilten Fenstern dominiert. Bei uns gingen diese auf der einen Seite auf den Rio di San Girolamo und auf der anderen auf einen Innengarten.
    Im mezza’ wickelten die Unterhändler ihre Geschäfte ab. Auf der einen Seite befanden sich die Verkäufer, auf der anderen die Käufer, jeweils gut sichtbar im Licht der Fenster, aber doch weit genug voneinander entfernt, damit sie, ohne von der anderen Partei belauscht zu werden, sich untereinander besprechen oder sich mit dem Geschäftsvermittler beraten konnten. Mit dem Ziel, einen Kompromiss zu finden, wechselte dieser ständig zwischen den Seiten hin und her, überbrachte Gebote, Vorschläge, Ablehnungen und Änderungswünsche. Wie der Name mediatore schon sagt, vermittelte er also zwischen den Geschäftspartnern. Und je näher man einem Abschluss kam, desto mehr drängte er die beiden Parteien, jeweils schrittweise aufeinander zuzugehen. War das Geschäft erfolgreich abgeschlossen, trafen Verkäufer und Kunden dann in der Mitte des mezza’ zusammen und reichten einander die Hand.
    Als kleiner Junge lauschte ich gebannt, wenn man mir davon erzählte. Und in jenen Jahren wurde auch meine Liebe zur Geschichte geweckt, ganz besonders zu der Venedigs.
    Vom Fenster zum Rio di San Girolamo aus konnte ich sehen, wenn irgendwelche Jungs auf dem Campo hinter der Brücke zusammenkamen, um Fußball zu spielen. Dann lief ich schnell die Treppen hinunter und über die Brücke, um mich ihnen anzuschließen.
    »Früher wäre das nicht so einfach gegangen«, erfuhr ich irgendwann.
    Denn jenseits der Brücke befindet sich der Platz des Ghetto Nuovo.
    Das »Neue Ghetto« war trotz seines etwas irreführenden Namens der erste Ort in Europa, an dem auf Anordnung der Stadtverwaltung Juden von Christen getrennt leben mussten. Vor dem Edikt vom 29. März 1516 gab es das Wort Ghetto in seiner späteren Bedeutung nicht. Es war allein im venezianischen Dialekt gebräuchlich, wo es sowohl in dieser Schreibweise wie auch als Getto eine stillgelegte Gießerei bezeichnete, auf deren Gelände dann dieser »Pferch« für die Juden errichtet wurde. Wer hätte damals gedacht, dass dieses Wort einmal eine ganz andere Bedeutung annehmen würde, nämlich die eines Ortes, an dem die Juden in jeder Stadt Europas ausgegrenzt wurden?
    Niemand. Und ganz bestimmt nicht die Venezianer jener Zeit.
    Damals interessierte ich mich nicht nur für Fußball, sondern in zunehmendem Maß auch für Mädchen. Und für eines schwärmte ich ganz besonders. Ein schlankes Mädchen mit dunklen lockigen Haaren und großen unergründlichen Augen, die mir das Blut in die Wangen schießen ließen, wenn sie – selten genug – meinem Blick begegneten.
    Ihren Namen habe ich nie erfahren. Aber sie lebte dort drüben, am Platz des Ghetto Nuovo. Und ihre Haustür war unter den Bogengängen, wo sich einst die Pfandleihen befanden.
    Einmal sah ich sie an einem Fenster im vierten Stock eines Hauses, das auf den Rio del Ghetto Nuovo ging. Ich beobachtete, wie sie die Wäsche hereinholte, die auf einer Leine zwischen ihrem Haus und dem Palazzo gegenüber zum Trocknen aufgehängt worden war. Am Abend träumte ich mit offenen Augen davon, wie schön es wäre, wenn ich in dem gegenüberliegenden Haus wohnen würde. Dann hätte ich an dieser Leine mit einer Wäscheklammer eine Liebesbotschaft befestigen und zu ihr hinüberschicken können. Am nächsten Tag hätte das Mädchen die Botschaft zwischen ihrer getrockneten Wäsche gefunden, und dann hätten wir uns jeweils auf Zehenspitzen ans Fenster gestellt und die Arme ausgestreckt, bis sich unsere Fingerspitzen beinahe berührten. Denn diese beiden Häuser standen wirklich sehr nah beieinander.
    Und doch, so erfuhr ich, hatte früher eine unüberwindbare Grenze sie getrennt.
    Damit wollte ich mich aber nicht abfinden, und ich stellte mir vor, was in jenen vergangenen Zeiten wohl passiert wäre, wenn das Mädchen eingesperrt gewesen wäre und ich nicht. Und ich war felsenfest überzeugt davon, dass ich aus Liebe zu ihr Jude geworden wäre.
    Selbstverständlich wusste ich damals noch nicht, dass zu jener Zeit ein Christ, der zum jüdischen Glauben übertrat, unverzüglich von der Inquisition öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt

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