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Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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um ihn herum nach zu urteilen hätten die anderen auch schlafen können. Aber das war ihm egal, er musste es einfach loswerden. Zum ersten Mal überhaupt. »Das verdammte Scheißwasser vom Tiber hat die Abwasserkanäle geflutet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte … Das Wasser stieg und stieg … Überall waren Ratten, sie quiekten so schrecklich … Dutzende … Hunderte …« Er hielt inne. Seine Kehle war zugeschnürt, Tränen stiegen ihm in die Augen. Er hatte Angst. Wie damals. Aber er wollte sie sich nicht anmerken lassen.
    »Und dann?«, fragte Benedetta leise.
    Zolfo drängte sich eng an Ercole.
    »Die Ratten strömten zu der Stelle, wo das Wasser hereinlief …«, fuhr Mercurio mit kaum vernehmbarer Stimme fort. »Das war eklig, ich hatte noch nie zuvor so viele auf einem Haufen gesehen … Deshalb bin ich in die entgegengesetzte Richtung gelaufen … zu den entfernten Ablegern der Kanalisation, den verdrecktesten Winkeln unter der Stadt … Und dann … bin ich auf einen anderen armen Kerl gestoßen … einen Säufer. Ich kannte ihn, weil ich ihm immer, wenn er betrunken war, alles geklaut habe, was er besaß … Und er … er hat mich an der Jacke gepackt und mich angeschrien, ich sollte den Ratten folgen. ›Die Ratten‹, rief er, ›die Ratten wissen, wohin man laufen muss. Folge den Ratten.‹ Und ich … ich weiß nicht, warum ich ihm geglaubt habe … Er war doch bloß ein verfluchter Säufer … ›Folge den Ratten!‹, schrie er. Und auch wenn sie mir Angst machten, bin ich den Ratten hinterher … Und ein paar von den Mistviechern sprangen mir auf den Rücken und den Kopf … und dabei quiekten sie so ekelhaft …«
    Benedetta erschauderte. Zolfo klammerte sich an Ercole fest.
    »Und dann hat das Wasser alles überflutet, und die Ratten sind abgetaucht … Ich habe nichts mehr gesehen, aber als ich unter Wasser geschwommen bin, konnte ich sie spüren … Ich habe sie unter meinen Händen gespürt … Und dann habe ich geglaubt, mir platzen die Lungen …« Mercurio keuchte, als würde er noch einmal die endlosen Momente durchleben, als er keine Luft bekam. »Ich bin am Kanaldeckel angekommen, habe ihn hochgedrückt und bin nach oben geklettert … Ich habe das Ufer erreicht, zusammen mit den Ratten, und dann bin ich dort geblieben, ich wollte auf den Säufer warten … um mich bei ihm zu bedanken. Und es tat mir leid, dass ich ihm so viel abgenommen hatte, diesem Sack, der mir jetzt … na ja, das Leben gerettet hatte. Ich habe den ganzen Tag dort gewartet … aber er kam nicht. Eine Woche später, als der Fluss sich zurückgezogen hatte, bin ich wieder hierhergekommen. Ich habe meine Sachen zusammengesucht, und dabei bin ich wieder in einen der östlichen Ableger geraten …« Mercurio verstummte.
    Keiner sprach.
    »Und da lag er«, fuhr Mercurio nach einer Weile fort, und seine Stimme war noch leiser geworden. »Er war den Ratten nicht gefolgt, weil er nicht schwimmen konnte. Und so ist er immer tiefer in die Abwasserkanäle gelaufen. Er ist genau dorthin gegangen, wo ich lang wollte, bevor ich ihn getroffen habe. Der Mann war völlig aufgedunsen, seine Zunge war dick und violett angelaufen … seine Augen standen weit auf und waren rot, sie sahen irgendwie aus wie aus Glas … Und seine Hände umklammerten die Gitterstäbe eines Kanaldeckels, der sich nicht geöffnet hatte.«
    Jetzt wagten die Kinder nicht einmal mehr zu atmen.
    Doch die Erzählung war noch nicht zu Ende. Da war noch etwas, das Mercurio loswerden musste. Ein Bild, das ihn quälte. Er atmete tief durch. »Und die Ratten kamen zurück … und nun waren sie hungrig …«
    Schweigen machte sich breit.
    Und in dieser Stille hörte man plötzlich jemanden sagen: »Jetzt hat Ercole doch Angschd vorm Ddunkeln.«

3
    Z ur neunten Stunde drehte das Schiff bei.
    Die Mannschaft bestand zum Großteil aus Makedoniern. Die dunklen Gesichter, von Salz und Kälte gegerbt, waren von tiefen Falten durchzogen. An einigen Stellen auf der braunen Haut, mitunter auch zwischen den schwarzen, strähnigen Haaren, waren erhabene Male zu sehen, die an zerquetschte Erdbeeren erinnerten. Und wenn einige der Männer beim Sprechen das Zahnfleisch entblößten, rann ihnen das mit Speichel vermischte Blut wie hellroter Saft über die gelben Zähne, die wegen der Krankheit, die erfahrene Reisende der Weltmeere unter dem Namen Skorbut kannten, bereits wackelten. Es gab zahlreiche Methoden, mit denen man sie zu bekämpfen versuchte. Aber bis vor wenigen Jahren

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