Das Mädchen, das nicht weinen durfte
pünktlich sein müssen.« Ich nickte und schmiegte mich an ihn.
»Papa, erzählst du mir eine Geschichte?«
»Okay. Es war einmal ein kleines Mädchen, das war so mutig, dass es sich ganz allein auf den Weg von der Schule nach Hause machte …«
Papa war der beste Geschichtenerzähler der Welt, weil er eine solch blühende Fantasie hatte. Jeden Abend erzählte er mir eine Geschichte und nie glich eine der anderen. Wenn ihm einmal gar nichts Neues einfiel, vermischte er die alten Geschichten so geschickt, dass daraus eine neue wurde. Oder er führte eine alte Geschichte, die bereits beendet war, einfach fort. Und immer wieder war es spannend, ihm zuzuhören, denn er verstellte dabei seine Stimme, je nachdem, von wem er erzählte oder welche Figur er gerade spielte. Es waren immer ergreifende Geschichten, oft solche, die von Menschen handelten, deren Leben nicht leicht war, Geschichten von Moral und von dem Schicksal, das Gott für die Menschen vorgesehen hatte. Es gab immer ein schönes Ende, egal, wie traurig die Geschichten angefangen hatten, egal, wie viel diese Menschen durchmachen mussten: Am Ende waren sie die Sieger, denn sie waren mutig und stark gewesen.
Wie etwa in der Geschichte von dem Mann, der sehr, sehr alt, einsam und bettelarm war. Eines Tages ging er durch die Straßen und begann die Steine vom Boden aufzusammeln, große und kleine, runde und eckige, weiße, graue, schwarze, alle, die er finden konnte. Die Leute lachten über ihn. Aber der alte Mann sammelte einfach weiter Steine, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr für Jahr. Als er alle Steine aufgesammelt hatte, begann er sie im Wald zu suchen, und als es dort keine mehr gab, fischte er sie aus den Teichen und Flüssen. Irgendwann gab es keine Steine mehr, weil der alte Mann sie aufgesammelt hatte, und weil die Menschen sie vermissten, wurden sie sehr wertvoll und der alte Mann steinreich. Jetzt lachte keiner mehr über ihn.
Jahre später mussten wir im Englischunterricht in der Schule in Bad Godesberg eine Kurzgeschichte schreiben. Mir fiel der alte Mann wieder ein und ich schrieb seine Geschichte auf.
»Von wem hast du denn diese schöne Geschichte?«, fragte mich mein Lehrer und gab mir ein »Sehr gut«.
Oft beteten mein Vater und ich aber auch gemeinsam und sagten Texte aus dem Koran auf. Papa sagte einen Vers auf und ich sprach ihn nach, bis ich ihn auswendig konnte. So brachte er mir die verschiedenen Verse bei.
Papa kannte auch die ausgefallensten Tricks, um mich zum Lernen zu motivieren, oder für die Dinge, die er für wichtig hielt. Zum Beispiel sagte er, dass es in jeder Nacht eine Zeit gibt, in der Gott meine Gebete erhört und mir meine Wünsche erfüllt. Man weiß aber nie, wann dieser Zeitpunkt ist, es kann zu jeder Zeit sein. So fing ich an, jede Nacht zu beten, sobald ich im Bett lag, denn irgendwann würde Gott in diesem Augenblick zuhören.
Meine ersten Abenteuer
Mein Vater konnte überhaupt nicht streng sein. Wenn er es doch versuchte, wussten wir Kinder genau, wie wir ihn erweichen konnten. Wenn wir mal richtig Unsinn gemacht hatten - und das taten wir oft - zeigte er mit dem Finger auf uns und versuchte böse zu gucken. Oft konnten wir uns das Lachen nicht verkneifen und letztlich lachte er dann auch.
Vielleicht konnte er mit dem Hauspersonal ebenso wenig streng sein. Denn das pünktliche Abholen klappte nur eine Zeit lang, bis eines Nachmittags wieder niemand kam. Mein Unterricht war schon seit Stunden vorbei. Ich setzte mich auf den Rasen neben dem Schulhof und bekam es nun doch ein bisschen mit der Angst zu tun. Die hatten mich wohl einfach vergessen! Was, wenn Papa
heute gar nicht nach Hause kam, weil er geschäftlich unterwegs war? Ich war den Tränen nah.
»Ja, dann bis morgen …« Meine Musiklehrerin kam aus dem Schulgebäude und verabschiedete sich über die Schulter hinweg von ihren Kollegen. Ich hatte sie in der zweiten Stunde gehabt.
»Was machst du denn noch hier?«, fragte sie erstaunt, als sie mich da sitzen sah.
»Mich holt keiner ab, die haben mich vergessen.«
»Wer hat dich vergessen? Deine Eltern?«
»Unser Fahrer ist noch nicht da, der, der mich heute Morgen gebracht hat.«
»Und deine Mutti, wo ist die denn?«
»Sie kennt den Weg nicht und Papa ist arbeiten. Ich weiß nicht, wann er nach Hause kommt.« Frau Sinner half mir vom Boden aufzustehen.
»Na komm, dann … dann bringe ich dich heim. Wo wohnst du denn?«
»Hinten, im großen Haus.« Ich zeigte in die Richtung, in die unser
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