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Das Mädchen, das nicht weinen durfte

Titel: Das Mädchen, das nicht weinen durfte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khadra Sufi
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Osten, kurz vor der Mauer, gab es einen kleinen Kiosk, ansonsten war die Straße trist und leer. An der Grenze hatten sich immer schon Schlangen von Autos gebildet, aber wir fuhren rechts an allen vorbei bis zur Kontrolle. Die Männer in Uniformen, langen Wollmänteln und Fellmützen, die man an den Seiten bis über die Ohren herunterklappen konnte, sahen uns erst aufmerksam ins Gesicht und dann in den Pass, immer wieder. Mama trug einmal eine Sonnenbrille und der Soldat forderte sie auf, die Brille abzusetzen, dann starrte er auf das Foto in ihrem Ausweis und wieder in ihr Gesicht. Die Soldaten machten mir Angst, weil sie uns so streng ansahen, als hätten wir etwas Schlimmes verbrochen.
    Hinter der Grenze dann wusste ich gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Links und rechts waren die Straßen geschmückt mit riesiger Leuchtreklame von Coca-Cola, Pizza Hut, McDonald’s und anderen. Es gab alles, was das Herz begehrte, verpackt in bunten Kartons und Tüten. Ich klebte mit der Nase an den Schaufensterscheiben mit Spielsachen und Süßigkeiten. Papa gab uns immer etwas Geld, von dem ich mir Chocolate Chips kaufte. Ich liebte diese knusprigen Schokowaffeln und wusste, dass ich sie bei uns im Osten in keinem Kaufhaus finden würde, denn ich war einmal dort gewesen.
    Das Kaufhaus lag ein paar Straßen von unserem Haus entfernt, es war ein großes, schlichtes, weißes Gebäude, an dem wir oft vorbeifuhren. An manchen Tagen bildeten sich lange Schlangen vom Eingang bis hinunter zur Straße, dann musste es wohl etwas ganz Besonderes dort zu kaufen geben. Eines Tages brauchte ich ein paar neue Stifte und Hefte für die Schule. Normalerweise brachte mir Papa solche Sachen aus dem Westen mit, aber diesmal hatte ich ihm nicht Bescheid gesagt und musste zum Kaufhaus laufen,
denn ich musste alles am nächsten Morgen für den Unterricht beisammen haben, sonst bekam ich einen Tadel. Meine Klassenlehrerin war ohnehin nicht gut auf mich zu sprechen, weil ich oft zu spät zum Unterricht kam. Ich lief durch die Regalreihen bis zu den Heften, sah aber nur eine Sorte. »Wo sind die Schulhefte?«, fragte ich die Verkäuferin. Sie zeigte mit dem Finger auf das Regal, vor dem ich gestanden hatte. »Na, da drüben.« Ich schaute noch mal hin und war enttäuscht. Papa brachte mir immer Hefte in bunten Farben und mit lustigen Comicmotiven mit, aber hier gab es nur schlichte, weiße Hefte, keine mit Micky Mouse, Donald, Daisy … Und die Stifte, die daneben lagen, sahen genauso langweilig aus. Ich nahm ein Heft und einen Bleistift. Als Nächstes hielt ich Ausschau nach etwas Süßem und fand Lollis, ich nahm einen roten, denn es gab nur rote. Ich zahlte und nahm mir vor, Papa ab jetzt rechtzeitig zu sagen, wenn er mir etwas mitbringen sollte. Ich gab ihm von da an kleine Einkaufszettel mit, auf die ich »Hanuta«, »Milchschnitte«, »Campinos« oder »Hubba Bubba« geschrieben hatte.
    Meine Chocolate Chips aus Westberlin waren in einer sechseckigen Packung aus weißer Pappe und da ich die Chips schon auf der Heimfahrt verschlungen hatte, stellte ich sie zu Hause in mein Zimmer und warf meine restlichen West-Mark hinein. Es waren wenige Münzen, zu wenige, wie ich fand.
    »Papa, kannst du mir Geld geben? Ich will sparen«, sagte ich. »Oh ja, Njunja. Das ist gut, sparen ist gut. Geh mal an mein Sakko, in den Taschen müssten noch Münzen sein.«
    Ich ging an seinen Kleiderschrank und schaute mir die aufgereihten Sakkos an. Welchen hatte er vorhin getragen? Seine Hose lag noch auf dem Bett, es war die marineblaue, also zupfte ich an den Taschen des passenden Sakkos und tatsächlich klimperten darin Münzen. Ich griff hinein, holte alles heraus und warf es in meine Chocolate-Chips-Spardose. Seitdem musste Papa mir jeden Abend sein Kleingeld aus den Taschen rausrücken, sogar
5-Mark-Scheine waren hier drin. 100 Mark sollten es werden, dachte ich mir. Und so viel wurde es dank meiner Spartaktik auch schnell.

Mein großer Bruder
    Eine andere Methode, um an Geld zu kommen, hatte mein großer Bruder Farid entwickelt: Er nahm heimlich Geld aus Papas Portemonnaie. Oft musste ich dabei Schmiere stehen. Sobald jemand kam, musste ich laut anfangen zu singen. Erst Jahre später verriet mir mein Vater, dass Farid ihm im Laufe der Zeit so Tausende Mark stibitzt hatte.
    Farid hat immer nur die Schokoladenseiten des Lebens als Diplomatenkind mitbekommen, von den schlimmen Zeiten, die der Familie bevorstanden, sollte er als Einziger verschont bleiben. Er

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