Das Mädchen, das nicht weinen durfte
überlebt.« Das Dach war rechts bis zum Boden eingedrückt. Wahrscheinlich bin ich durch die Windschutzscheibe nach draußen geflogen, bevor die gesamte Beifahrerseite des Wagens zerquetscht wurde. Wie auch immer, ich bin sicher, dass Gott an diesem Tag seine schützende Hand über uns gehalten hat, auch, weil Mama mit Chuchu und Nanna erst gar nicht mitgefahren war.
Begegnungen mit der Armut
Obwohl wir anfangs zur Miete wohnten, besaßen meine Eltern in Somalia bereits ein schönes Haus mit einem großen Grundstück, das in der Nähe des Meeres lag. Die Villa hatte mein Vater all die Jahre an eine italienische Familie vermietet. Es war ein nettes, älteres Ehepaar, dessen Kinder schon erwachsen und außer Haus waren. Das Haus war wirklich ein kleines Paradies, umringt von einem wunderschönen Garten mit vielen Pflanzen, vor allem Palmen. Im hinteren Teil gab es einen nierenförmigen Swimmingpool. Und jetzt wollten die Italiener bald für immer in ihre Heimat zurück. Das war mir ganz recht, denn ich konnte es kaum erwarten, mit meiner Familie in dieses Haus zu ziehen. Aber Papa hatte weitere Pläne. Auf dem riesigen Grundstück wollte er ein
zweites Haus bauen. Eines wollte er vermieten, bis wir Kinder groß genug waren, um später hineinzuziehen. Und nachdem die Italiener weggezogen waren, begannen die Arbeiten.
Während des Baus zogen wir aus unserem schönen gemieteten Haus in Lido aus und wohnten vorübergehend in Xamar Jajab, was so viel bedeutet wie »die kaputte Stadt«, und so sah es links neben unserem Haus auch aus: Dort gab es einen riesigen Schrottplatz, auf dem alte, verrostete Autoteile gestapelt standen. Dafür konnten wir uns auf den Strom verlassen, der nicht von einem dröhnenden Generator produziert wurde, der dauernd ausfiel, sondern durch eine Solaranlage auf dem Dach. Schön war, dass unser Zuhause hier nicht so abgelegen wie in Lido war und wir viel mehr Nachbarn hatten. Direkt neben uns wohnte eine Familie mit vielen Kindern und einer von ihnen war mein Schwarm Amir. Er stand plötzlich mit seinem Vater vor unserem Haus, um uns als neue Nachbarn zu begrüßen. Sein Vater kannte meinen, denn sie stammten aus derselben Region in Brava. Amir grinste mich an, weil er schon viel früher mitbekommen hatte, dass wir hierherziehen würden. Jetzt wohnten wir Tür an Tür.
Seine Schwestern und Cousinen merkten schnell, dass wir ineinander verschossen waren. Diese Mädchen hatten den ganzen Tag nichts zu tun und machten es sich zur Aufgabe, mich anzufeinden. Amir regte sich über sie auf, wenn sie anfingen, ihn meinetwegen zu ärgern. Trotzdem trafen wir uns draußen vor der Tür und spielten mit Streichholzschachteln, die wir zwischen die Finger nahmen, um sie in die Luft zu werfen. Je nachdem, auf welcher Seite sie auf dem Boden landeten, gab es unterschiedlich viele Punkte. Manchmal saßen wir aber auch einfach nur auf den Treppenstufen vorm Haus und unterhielten uns. Wenn er mit mir allein war, war er immer ganz anders als in der Schule, aber leider waren wir nie lange allein. Die gehässigen Blicke seiner weiblichen Verwandten verfolgten uns ständig, ich begriff anfangs überhaupt nicht, warum sie immer so gemein waren. Der Grund
war, dass es für ein Mädchen total unüblich war, irgendwelche Gefühle für einen Jungen zu zeigen oder sich öffentlich mit ihm zu treffen. Ich war auch anders als sie, weil ich kurze Hosen anhatte und meine Haare offen trug. Obwohl wir noch Kinder waren und uns einfach nur gern mochten, war das alles schon zu viel. »Schuld« war in diesen Situationen immer das Mädchen, deshalb mochten sie mich nicht.
Als wir wieder einmal an der Treppe vor der Haustür saßen, kamen drei kleine Jungs die Straße entlanggelaufen und setzten sich vor uns hin. Man sah ihnen an, dass sie aus sehr ärmlichen Verhältnissen kamen. Ihre nackten Oberkörper und ihre Gesichter waren völlig verdreckt und an den Hosen fehlten große Stofffetzen. Sie liefen barfuß durch die Scherben und den Dreck auf den Straßen und mir fiel auf, dass alle drei etwas in der Hand hielten, woran sie die ganze Zeit schnüffelten.
»Was machen die da?«, fragte ich Amir.
»Sie schnüffeln Kleber.« Er hatte das schon öfter gesehen.
»Kleber? Warum schnüffeln die Kleber?!« Ich konnte mir überhaupt keinen Reim darauf machen, warum man an dem ekelhaft bissig riechenden Zeug freiwillig riechen sollte.
»Sie schnüffeln Kleber, um sich zu betäuben und keinen Hunger zu spüren.« Dieses und andere
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