Das Mädchen, das nicht weinen durfte
der bei uns arbeitete, um seine Familie versorgen zu können.
Leben auf unsicherem Boden
Eines Tages stand ein alter Mann im Garten. Er trug einen weißen Turban und hielt einen braunen Krückstock in der Hand, dabei konnte er eigentlich ganz normal gehen, und es sah so aus, als ob er den Stock nur aus Gewohnheit hielt. Er hatte eine Frau dabei, die so blutjung aussah, dass ich dachte, sie wäre seine Tochter. Sie hielt ein Baby auf der Hüfte und humpelte stark, weil ihr linker Fuß verkrüppelt war und steif nach innen zeigte.
»Wir haben kein Zuhause und kommen von sehr weit her. Bitte geben Sie mir eine Bleibe für mich und meine Frau und unser kleines Kind. Ich könnte doch als Wachmann für Sie arbeiten.« Obwohl jeder sehen konnte, dass der alte Mann niemals einen Einbrecher würde fangen können, stellte mein Vater ihn ein. Später rechtfertigte er sich, obwohl keiner seine Entscheidung kritisiert hatte.
»Die Einbrecher sollen ja nur wissen, dass nachts jemand im Haus ist, der Wache hält. Dann brechen sie erst gar nicht ein.« Das war seine Theorie. Der Mann und die Frau taten ihm leid, das war der eigentliche Grund. Wo sollten die beiden auch hin mit ihrem Baby?
Im Hof stand, wie vor den meisten großen Häusern, ein kleines Häuschen, das von an jetzt ihr Heim war. Der alte Mann und seine Frau verhielten sich unauffällig. Wenn sie den kleinen Vorhof kehrte, trug sie das Baby in ein Tuch gebunden an ihrem Rücken. Es schlief dabei tief und fest. Ich fragte mich, ob die Frau wohl glücklich war mit so einem alten Knacker, aber sie schien zufrieden zu sein. Nur ein einziges Mal bekam ich einen Streit mit. Die Frau brüllte ihn an, ihr Akzent war aber so stark, dass
ich ihr Somalisch nicht verstehen konnte. Der alte Mann war ziemlich genervt und versuchte ihr aus dem Weg zu gehen, aber das machte sie noch wütender. Ich beobachtete das Geschehen von der Terrasse aus. Als er an ihr vorbeilief, schlug sie ihm mit den Fäusten wild auf den Rücken. Der alte Mann, der eigentlich ein ruhiges Wesen hatte, drehte sich abrupt um, griff sich die Frau und stellte ihr ein Bein. Sie stolperte und fiel kopfüber auf den Boden, aber der alte Mann tat, als wäre nichts geschehen, und ging einfach weiter, während sie ihm hinterherbrüllte. Jetzt musste ich lachen und so eigenartig es sich anhören mag: Irgendwie haben die humpelnde Frau und der alte Mann zusammengepasst.
Außer diesem Vorfall bekamen wir wenig von ihnen mit. Die junge Frau kochte und sorgte für das Baby und ihn hörte man nur, weil sein Krückstock immer klock, klock, klock machte.
Zu meiner Freude brachte Papa eines Tages einen Hund mit. Er wusste, dass ich mich tierisch darüber freuen würde. Dass der Hund eigentlich als eine zusätzliche Wache in der Nacht gedacht war, ahnte ich nicht. Ich taufte ihn Rocky II .
Obwohl Farid ja nicht mehr da war, kam sein Freund Jassar uns weiterhin regelmäßig besuchen. Wir Kinder fielen ihm jedes Mal überglücklich in die Arme. Dann griff er in seine Tasche und kramte Lollis raus, die in der Hitze schon klebrig geworden waren, weil er sie seit Stunden in der Hosentasche trug. Jassar blieb dann meist über Nacht und je länger er blieb, umso schöner war es für uns. Abends blieben wir lange auf und saßen mit ihm auf der Terrasse und redeten sehr viel über Farid, der uns allen fehlte, und Jassar erzählte uns die ganzen verrückten Geschichten, die sie gemeinsam erlebt hatten.
»Einmal saßen wir in eurem blauen Mercedes und fuhren die Straße entlang. Wir sahen zwei Frauen vor uns auf dem Bürgersteig und ich machte die Fensterscheibe auf, Farid fuhr ganz langsam ran und ich haute einer von ihnen mit voller Wucht auf den Hintern, dann drückte Farid aufs Gas und wir düsten davon …«
Ich habe mir oft gewünscht, Farid wäre da gewesen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, wie sehr ich einen großen Bruder brauchen würde, aber Jassar war ein guter Ersatz. Weil er uns an ihn erinnerte, weil beide ähnlich verrückt und lustig waren und weil Jassar der beste Freund war, den Farid jemals hatte. Die beiden versprachen sich schon als Kinder die ewige Freundschaft, sie wollten irgendwann gleichzeitig heiraten, wenn sie ihre Traumfrauen gefunden hatten, und dann würden sie mit ihren Familien Nachbarn werden, egal wo auf dieser Welt. Aber als Farid nach Kanada ging, musste Jassar in Somalia bleiben, weil ihm das Geld für dieses Abenteuer fehlte.
Als Jassar in dieser Nacht auf der Couch im Wohnzimmer
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