Das Mädchen, das nicht weinen durfte
angemessen hielt.
Als ich nachmittags nach Hause kam, erzählte ich meinem Vater, was geschehen war, und am nächsten Tag fuhr er uns persönlich in die Schule. Er brachte meine beiden jüngeren Geschwister in ihre Klassen, nahm mich an der Hand und ging mit mir zum Schuldirektor. Ohne anzuklopfen platzten wir in dessen Zimmer und Papa baute sich vor seinem Schreibtisch auf.
»Hören Sie!« Er hob drohend den Finger. »Ich zahle sehr viel Geld, damit meine Kinder hier etwas lernen, und ich will nicht, dass irgendwer sie schlägt oder auch nur anfasst!« Der Direktor wollte ihn beschwichtigen, aber Papa fiel ihm ins Wort.
»Meine Tochter hat hier gestern gesehen, wie ein Schüler von einem Mister Omar verprügelt wurde. Das passiert mit meinen Kindern nicht! Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe!« Er drehte sich zu mir, nahm meine Hand und wir verließen das Zimmer.
Am Mittag kam Mister Omar auf mich zu und sprach mich an, er lächelte gequält.
»Hast du deinem Vater gesagt, dass du hier nicht geschlagen werden willst?« Ich sah ihm direkt in die Augen und hatte ein Gefühl, als stünde der Teufel persönlich vor mir. Ich nickte vorsichtig und traute ihm zu, dass er mich trotzdem schlagen würde, doch er tat es nicht. Stattdessen schwieg er, drehte sich um und ging. Von diesem Tag an strafte er mich mit Nichtbeachtung, aber das war mir ganz recht.
Ich hasste diese Schule, das Einzige, worauf ich mich freute, war ein süßer Junge aus der Parallelklasse. Ich konnte meine Gefühle damals nicht deuten, aber heute weiß ich: Ich war in Amir verschossen! Jeder merkte, dass ich mich eigenartig verhielt, sobald er in meiner Nähe war. Er mochte mich auch und lächelte mir immer verschüchtert zu. Er hatte karamellfarbene Haut, kurzes Haar mit schönen, weichen Locken und eine freche, etwas heisere Lache. Wenn wir uns auf dem Schulhof trafen, bastelten wir Papierflieger, spielten »Tic Tac Toe« mit Kreide auf dem Asphalt oder mit den Fingern »Schnick-Schnack-Schnuck«, das ich aus Berlin kannte. Doch dann tauchten irgendwann seine Freunde auf und machten alles kaputt. Sie fingen an, uns zu ärgern und aufzuziehen, und der schlimmste der Jungen war ausgerechnet der, der mir so leidgetan hatte, als Mister Omar ihm den Hintern versohlte. Und irgendwann kam Amir in meine Klasse, weil er mich begrüßen wollte, und plötzlich stürmte sein Freund herein, lief an die Tafel und schrieb: »Khadra loves Amir.« Dann las er es auch noch laut allen Schülern vor. Ich schämte mich, und Amir auch, glaube ich, denn von nun an wollte er mit mir nichts mehr zu tun haben.
Dem Tod gefährlich nahe
Eines Tages hatte ich länger Unterricht als meine Geschwister, die der Fahrer bereits nach Hause gebracht hatte. Mein Vater holte mich mit dem Mercedes ab, mein jüngerer Bruder Jamal war auch dabei. Eigentlich hatte auch meine Mutter mit Chuchu und Nanna mitkommen wollen.
»Nein, nein, bleib du mal mit den Kleinen da, wir sind ja gleich wieder zurück«, hatte mein Vater jedoch gesagt. Zufall? Eingebung? Wie auch immer, die Entscheidung rettete ihnen möglicherweise das Leben. Denn Papa fuhr auf dem Rückweg noch bei einem Freund vorbei, der eine Autowerkstatt hatte. Ich weiß noch, dass ich kurz ausgestiegen bin, um mit ihm hineinzugehen, aber an das, was danach passierte, kann ich mich bis heute nicht mehr erinnern.
Erst Tage danach öffnete ich meine Augen und schaute in das Gesicht meines Bruders Jamal. Er sah mich genauso erschrocken an wie ich ihn. Wir waren beide gleichzeitig aus dem Koma erwacht und es war, als würden wir in den Spiegel sehen. Jamals linkes Auge war so stark geschwollen, dass er es nicht öffnen konnte. Mein rechtes Auge war durch einen Verband geschützt, sodass ich nur mit dem linken verschwommen sehen konnte. Mein Gesicht schmerzte. Jamals rechter Arm war eingegipst.
Wir lagen in einem kahlen Zimmer im Krankenhaus. Ich hörte jemanden schluchzen und wollte mich schnell auf die andere Seite drehen, aber der Schmerz in meinem Kopf hinderte mich daran. Vorsichtig drehte ich mich um. Am Fenster stand meine Mutter. Sie blickte nach draußen und weinte und ich versuchte zu sprechen: »Mama.« Mehr bekam ich nicht über meine Lippen. Sie drehte sich rasch um und kam zu uns ans Bett.
»Gott sei Dank, Gott sei Dank, ihr seid wieder da!« Jetzt weinte sie vor Freude.
»Wo sind wir? Was ist passiert?«, fragte Jamal.
»Ihr hattet einen ganz schlimmen Autounfall.« Nun erfuhren wir, dass ein Lastwagen
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