Das Mädchen, das nicht weinen durfte
Erlebnisse ließen mich immer nachdenklicher werden über mein Land. Ich sah die vielen Menschen, die wirklich gar nichts hatten, außer dem, was sie am Leib trugen. Wenn man unsere Straße etwas weiter hinunter ging, kam man in zerrüttete Siedlungen. Die kaputte Stadt, wie Xamar Jajab ja hieß, bekam hier erst richtig ein Gesicht. Es gab ein paar kleine Geschäfte und Lokale, wo Männer sich zum Kartenspielen trafen, Tee tranken und Kath kauten, um sich zu berauschen. Hier wohnte auch ein Zwillingspaar, die beiden waren etwa in meinem Alter und nicht voneinander zu unterscheiden. Ich sah sie öfter. Sie saßen auf einer Treppe vor einem kleinen, verwahrlosten Haus und starrten auf die Straße. Einmal hatte einer von ihnen einen
Lolli im Mund. Dann holte er ihn raus und streckte ihn seinem Bruder rüber. Der steckte sich nun den Lutscher in den Mund, behielt ihn aber offenbar zu lange. Der erste Zwilling klopfte ihm auf die Schulter. So fanden sie ihren Rhythmus. Lolli rein, Lolli raus, Lolli rein … bis nur noch der Stiel übrig war. Sie hatten ihn sich teilen müssen.
Wir hingegen bekamen einen neuen Fahrer, Ahmed. Er war vielleicht Mitte 30, völlig ungebildet, aber sehr fleißig, und mein Vater mochte ihn. Ahmed holte mich eines Tages mit unserem weißen Toyota-Pick-up von der Schule ab. Als ich gerade auf den Beifahrersitz steigen wollte, sah ich auf der Fußmatte einen kleinen Plastikbehälter stehen, der zur Hälfte mit Milch gefüllt war. Ahmed nahm ihn weg und stellte ihn auf die Fußmatte vor die Pedale.
»Warum hast du Milch im Auto?«
»Deine Oma hat sie mir für mein Baby mitgegeben.« Er strahlte mich an und fuhr los. Mit der linken Hand hielt er den Lenker und mit der rechten den Behälter, der auf der Matte stand. »Können wir kurz bei mir vorbeifahren, damit ich die Milch abgeben kann?« Ich hatte nichts dagegen und langsam, ganz langsam, weil er beim Fahren die Milch festhalten musste und keinen Tropfen verschütten wollte, fuhren wir los.
»Soll ich die Milch nehmen?«, fragte ich Ahmed. Doch er winkte ab. Die Häuser, an denen wir vorbei kamen, waren zum Teil verfallen, es fehlte einfach ein Dach oder Wände waren eingerissen, sodass sie unbewohnbar schienen, obwohl sie bewohnt wurden. Dann kamen wir durch eine schmale Gasse, in der der Geruch von Urin und Fäkalien mir in der Nase brannte. Und plötzlich rannten Kinder schreiend hinter uns her und sprangen auf die Ladefläche des Toyota. Sie kamen aus allen Ecken und es wurden immer mehr. Ich hatte so etwas noch nie erlebt und es wurde mir unheimlich.
»Häng sie doch ab!«, schrie ich.
»Ich muss doch auf die Milch aufpassen«, antwortete Ahmed nur und kurz darauf hielt er am Ende der Gasse an. Die Kinder sprangen ab und liefen jauchzend davon. Sein Haus war wirklich das heruntergekommenste von allen, es hatte nicht mal mehr eine Eingangstür, nur einen Rahmen, der zerborsten war, und in den Fenstern waren die Scheiben zersplittert.
»Komm mit, ich stell dir meine Frau vor«, sagte Ahmed und ich spürte, wie stolz er war. Das Haus war schmal und hatte zwei Stockwerke. Die Wände waren voller Fingerabdrücke und Flecken, viele kleine Kinder rannten um uns herum. Ahmeds Frau stand an der Treppe und hielt ein Baby im Arm. Sie trug ein schwarzes Gewand, das auch ihr Haar bedeckte, nur ihr liebliches Gesicht war zu sehen.
»Das ist Khadra, die Tochter von meinem Chef«, stellte er mich seiner Frau vor.
»Ach, wie schön, dass du hier bist. Herzlich willkommen!«, sagte sie und strahlte mich an, dabei hielt sie das Baby so, dass ich sein Gesicht sehen konnte. »Das ist unsere Jüngste, sie ist zwei Monate alt.«
»Was für ein süßes Baby!«, antwortete ich. »Wie viele Kinder habt ihr denn?«
»Insgesamt sind es jetzt sieben«, antwortete Ahmed.
»Komm, wir stellen sie dir vor«, winkte seine Frau mich die Treppe hoch.
»Nein, nein. Wir müssen direkt weiter. Ich wollte nur die Milch für das Baby abgeben«, wehrte Ahmed ab, und ich war erleichtert, denn so freundlich sie auch waren, wollte ich nur noch nach Hause. Als wir losfuhren, lief wieder die Horde Kinder hinter uns her und Ahmed fuhr wieder langsam, um ihnen den Spaß zu gönnen. Es kam wohl nicht oft vor, dass sich ein Auto hierher verirrte, und als wir die Gasse verließen, hupte er ein paarmal zum Abschied. Ich hatte einen kurzen Blick in seine Welt werfen dürfen und er tat mir leid, weil sein Leben so ärmlich war, aber ich wusste nun
auch, dass er ein guter Mensch war,
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