Das Mädchen, das nicht weinen durfte
schlief, wurde er durch Geräusche geweckt und sah einen Schatten, den er beobachtete. Der Schatten schlich hastig auf Zehenspitzen umher und verschwand dann im kleinen Lagerraum nebenan. Dort hörte Jassar ein Knarren und Quietschen, dann schlich er zum Lagerraum und sah hinein. Es war ein Einbrecher, der versuchte, das kleine Dach aus Kunststoff hochzuschieben, um sich hindurchzuzwängen. Das musste er schon ein paarmal in dieser Nacht getan haben, denn er hatte bereits einige Wertsachen gestohlen. Jassar überlegte noch, wann die beste Gelegenheit wäre, über den Eindringling herzufallen, da machte es draußen klock, klock, klock … Auch der alte Mann hatte endlich mitbekommen, dass wir ausgeraubt wurden, und kam langsam näher. Aber natürlich hatte der Einbrecher das Geräusch des Krückstocks gehört und verschwand unerkannt in der Nacht.
Im Morgengrauen weckte uns Jassar. Der Fernseher war weg und es fehlten noch ein paar Kleinigkeiten wie wertvolle Vasen und Statuen. Schnell wurde klar, wie der Einbrecher ins Haus gelangt war. Auf dem Schrottplatz nebenan türmten sich die Autoteile so hoch, dass man problemlos auf unser Dach klettern konnte. Von dort war er in den Hinterhof gesprungen und hatte das Schlupfloch zum Lagerraum gefunden. Aber er muss mit der
Beute auch diesen Weg wieder zurückgeflüchtet sein, dabei wollte er offenbar zu hastig vom Dach runter, denn der Fernseher lag in Einzelteilen am Fuße des großen Schrotthaufens.
Es war uns zwar durch den Einbruch kein allzu großer Schaden entstanden, aber der Vorfall zeigte uns deutlich, dass wir hier nicht sicher waren. Ich hatte große Angst und von nun an schliefen wir alle bei meinen Eltern im Zimmer. Der Raum war groß genug, sodass wir problemlos weitere Hochbetten hineinstellen konnten. Außerdem ließen meine Eltern jetzt jede Nacht das Licht im Badezimmer an, um uns Kindern die Furcht zu nehmen. Mein Vater baute auch überall zusätzliche Schlösser ein, Abend für Abend nahm er mich mit von Tür zu Tür, um alle abzuschließen. Auf diese Weise wollte er mir wohl die Angst vor einem neuerlichen Überfall nehmen. Nur an die obersten Schlösser kam ich nicht dran, Papa hob mich hoch, damit ich sie abschließen konnte. Es wurde zu einem beruhigenden Ritual, das ich dennoch hasste, weil es mich daran erinnerte, wie gefährlich es in diesem Land war.
Seitdem ich in Somalia war, schlief ich nachts unruhig und träumte schlecht und nach dem Einbruch wurde es noch schlimmer. Ich fühlte mich nie wirklich sicher und meinen Geschwistern und vor allem meiner Mutter ging es ebenso. Mama war sowieso ängstlich und litt unter schlimmen Albträumen, von denen sie nachts schreiend aufwachte und wir gleich mit. Jedes Mal glaubten wir, dass wieder jemand eingebrochen hatte.
Nur einmal habe ich Mama in dieser Zeit völlig glücklich und losgelöst erlebt. Es war spät am Abend und das erste Mal, dass es in diesem Jahr in Mogadischu regnete. Und wie es regnete: Es schüttete und stürmte, es blitzte und donnerte, Staub und Hitze wurden vom Regen weggewaschen. Die Wucht der Naturgewalt erschreckte mich. Wir wollten gerade die Türen schließen, da rannte Mama an uns vorbei. Sie trug nur ein weißes, bodenlanges Nachthemd.
»Mamaaa!«, rief ich und versuchte sie festzuhalten, bekam sie aber nicht zu fassen. Sie rannte nach draußen und hielt ihr Gesicht in den Himmel.
»Mama, bist du verrückt geworden?«, rief ich wieder, doch sie beachtete mich gar nicht, stattdessen rannte sie die Treppe zum großen Eingangstor hinunter. Es blitzte um sie herum und ich betete, dass sie nicht getroffen würde, sie aber hatte überhaupt keine Angst. Der Wind riss Ziegel vom Nachbarhaus ab, in dem mein Freund Amir wohnte. Die Ziegel flogen bis auf unser Grundstück. Wie ein Wasserfall plätscherte der Regen von den Dächern, die Straße verwandelte sich in einen Sturzbach, der alles mitriss. Auch Mama wurde von der Wucht erfasst, konnte aber die Balance halten und ließ das Wasser an ihrem Körper entlang herunterlaufen. Wir standen alle an der Tür und wussten nicht, was wir sagen oder tun sollten. Und dann kam sie endlich zurück zum Haus. Ihre nassen schwarzen Haare klebten bis zur Hüfte an ihrem Nachthemd. Sie atmete kurz und hastig, aber sie lächelte sanft, so, als ob der Regen ihr alle Last weggespült hätte. Papa stand mit verschränkten Armen etwas weiter weg. Er zog die Augenbrauen hoch und schüttelte mit dem Kopf. Es war eine Mischung aus Fassungslosigkeit und
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