Das Mädchen, das nicht weinen durfte
unser Auto gerammt, dann den Mercedes mit sich geschliffen und gegen eine Wand gedrückt hatte.
»Wo ist Papa?!«, wollte ich wissen. »Er ist in einem anderen Krankenhaus. Er hat sich sieben Rippen gebrochen.«
Ich hörte zwar, was meine Mutter sagte, konnte es aber nicht begreifen, weil ich von all dem nichts mitbekommen hatte. Ich konnte mich an nichts, gar nichts erinnern. Jamals Oberarm war gebrochen, eine Metallplatte wurde eingesetzt, um den Knochen zu fixieren. Und ich muss durch die Frontscheibe des Mercedes geflogen sein, dabei hatte das Glas eine tiefe Wunde vom rechten Lid bis weit auf den Kopf hinauf geschnitten. Ich kann mich noch an die Gesichter meiner Verwandten erinnern, als sie mich erstmals sahen. Tante Tita schaute mich mit traurigen Augen an.
»Mein Gott, Kind, du Arme, dein ganzes Gesicht ist ja zerstört.« Eigenartigerweise hat mir das damals nicht so viel ausgemacht, heute stört es mich schon, wenn ich die Narbe sehe, aber - obwohl ich darüber nachgedacht habe - ich habe sie mir nie operieren lassen, weil sie ein Teil meines Lebens ist und mich an meine Geschichte erinnert.
Mama war so tapfer. Erstmals seit vielen Jahren allein auf sich gestellt, fuhr sie jeden Tag von einer Klinik in die andere, um für uns zu sorgen. Als ich aufstehen durfte, ging ich über den Flur. Was ich da sah, ließ mich meine Schmerzen für Augenblicke vergessen. Kranke und verletzte Kinder saßen auf dem Boden und es schien niemanden zu geben, der sich um sie kümmerte. Gleich neben unserem Zimmer kauerte ein abgemagerter Junge, eine Dose mit Milchpulver in der Hand. Er fischte mit den Fingern darin und steckte es sich gierig in den Mund. Er hatte nicht mal Wasser, um es aufzulösen. Ich betete zu Gott, dass er diese Kinder genauso beschützen würde, wie er uns beschützt hatte.
Nach einigen Tagen durften wir das Krankenhaus verlassen. Ich trug immer noch den Verband, der mein halbes Gesicht bedeckte.
Es war geschwollen und die Schnittwunden schmerzten, aber jetzt durften wir endlich Papa besuchen. Ich kam in sein Zimmer und rannte an sein Bett. Er konnte sich keinen Millimeter bewegen und trug einen Stützverband, eine Art Mieder, das seine gebrochenen Rippen schützte. Papa versuchte zu lächeln, als er uns sah, aber der Schmerz verzerrte dabei sein Gesicht. Ich konnte ihn noch nicht einmal richtig umarmen, weil ihm jede Bewegung wehtat, sogar das Atmen fiel ihm schwer. Er musste ganz langsam und kontrolliert Luft holen, durfte kaum reden, nur flüstern.
»Es ist ein Wunder, dass wir alle noch am Leben sind.«
Während es Jamal schnell besser ging, flogen Papa und ich Wochen später nach Italien, um uns dort von einem Spezialisten behandeln zu lassen. Er sollte sich auch meine Narben anschauen, die eiterten und nicht heilen wollten. Ich hatte den Kiefer entlang Schnittwunden, zudem hatte ich immer noch starke Schmerzen unterhalb der rechten Augenbraue. Der italienische Arzt war ein Bekannter meines Vaters und schimpfte über meine hässliche Narbe, die schlecht vernäht war. Dann drückte er auf die schmerzende Stelle.
»Bambina, das, was da wehtut, sind Glasscherben, die noch unter der Narbe stecken.« Ich musste noch mal operiert werden und er holte einige Scherben heraus, die er mir nach der Operation zeigte. »Die hier ist so groß, daraus kannst du dir einen Brillantring machen lassen«, flachste er.
Auch meinem Vater ging es noch nicht viel besser. Abends half ich ihm, sich ins Bett zu legen. Zentimeter für Zentimeter kam er nur voran und schrie dabei vor Schmerzen. Am Morgen zog ich ihn mit aller Kraft am Arm wieder hoch, weil er keinen einzigen Muskel selbst anspannen konnte. So ging es mehrere Tage lang, aber er war in guter Behandlung und sein Zustand verbesserte sich schnell. Irgendwann war er schließlich wieder so fit, dass wir zurück nach Somalia fliegen konnten.
Einige Zeit später besuchten wir noch einmal seinen Freund in der Autowerkstatt. Unser blauer Mercedes stand dort, um verschrottet zu werden, und wir wollten noch einmal sehen, was aus unserem geliebten Auto geworden war, das uns so viel Unglück gebracht hatte - oder unser Leben gerettet? Wir konnten kaum glauben, dass wir überlebt hatten, als wir den Mercedes sahen. Ich bin mir bis heute sicher, dass ich auf dem Beifahrersitz gesessen haben muss, da saß ich immer, wenn Papa mich von der Schule abholte, um in seiner Nähe zu sein.
»Nein, Njunja, das kann nicht sein. Schau dir das doch mal an! Da hättest du nicht
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