Das Mädchen, das nicht weinen durfte
spürbar, sichtbar, erfahrbar.
Es war ein lauer Sommernachmittag. Ich beobachtete ein kleines Mädchen, das richtig süß aussah. Sie trug ein rotes Kleid und weiße Söckchen. Passend zu ihren schwarzen Lackschühchen hatte sie eine schwarze Schleife in ihr braunes Haar gebunden. Ich saß auf dem Platz, an dem ich immer auf meine Schulfreundin Jana gewartet hatte, wenn ich mit zu ihr nach Hause gefahren war, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen. Doch jetzt reisten alle Ausländer ab und ich wäre am liebsten mitgeflogen, als auch das kleine Mädchen in den Helikopter gehoben wurde.
Die ganze deutsche Gemeinde hatte sich zuvor in der German Private School getroffen, denn von hier aus ging es mit dem Hubschrauber zum Flughafen und von da in die Heimat. Die deutsche Privatschule wurde geschlossen, von einem Tag auf den anderen gab es meine Schule einfach nicht mehr, mein letztes Stück Deutschland war weg. Aber ich kannte bisher nichts anderes, außer deutsch zu sein, deutsch zu sprechen und mich deutsch zu benehmen. In den Jahren in der DDR hatte ich alles aufgesaugt, was deutsch war, hier in Somalia musste ich lernen, dass ich eine Somalierin war.
Ich musste auf eine andere Schule gehen und kann mich noch genau an meinen ersten Schultag in dieser neuen Schule erinnern. Als der Chauffeur Nanna, Jamal und mich hingefahren hatte, sah ich als Erstes den großen Menschenauflauf. Die English Private School war riesig, auch Somalis, die sich eine private Schule leisten
konnten, ein paar Japaner und vor allem Inder brachten ihre Kinder hierher. Die meisten Lehrer und Lehrerinnen waren jung und stammten aus Indien, der Schuldirektor Mister Ahmed und mein Klassenlehrer Mister Omar waren die einzigen Somalis. Wir Schüler mussten Uniform tragen, ein weißes Hemd und dazu marineblaue Hosen oder Röcke.
Jeden Morgen um 7.45 Uhr stellten alle Klassen sich in strammer Haltung hinter- und nebeneinander auf. Davor standen die jeweiligen Klassenlehrer mit einer Anwesenheitsliste in der Hand. Dann ging es los, in alphabetischer Reihenfolge wurden die Namen aufgerufen.
»Ahmed Abdullah«, schrie die Lehrerin und schaute in die Runde. Wenn der Schüler anwesend war, schrie er zurück: »Present!«
»Hassan Ali?« Die Lehrerin streckte wieder prüfend den Kopf hoch. Wenn der Schüler abwesend war, schrie sein Nachbar: »He is absent ma’am!«
»Okay, absent.« Sie notierte es sorgfältig in ihrer Liste. So ging es das ganze Alphabet runter, in sechs Reihen, ein Lehrer pro Klasse, und alle brüllten gleichzeitig los. Es war so laut, dass man sich konzentrieren musste, um nicht zu verpassen, wenn der eigene Name aufgerufen wurde, damit die Lehrerin kein »absent« in der Liste ankreuzte.
Nach diesem militärischen Appell waren auch alle die wach, die verpennt in die Schule gekommen waren. Und es war noch nicht vorbei. Nach der Überprüfung der Anwesenheit gingen die Lehrer mit einem Lineal in der Hand klopfend und mit prüfendem Blick durch die Reihen. »Was sehen die sich bloß an?«, fragte ich mich unruhig. Je näher die Lehrerin zu mir kam, umso nervöser wurde ich. Dann war sie nur noch drei Schüler von mir entfernt und ich sah, wie sie einem Jungen mit dem Lineal auf die Finger haute. Als sie vor mir stand, sagte sie ein Wort, das ich in der Aufregung nicht verstand, irgendetwas mit N musste es gewesen sein. Sie wollte bestimmt noch mal den Namen wissen: »Khadra
Sufi.« Sie schaute mich eindringlich an: »Nails!« Ach so, sie wollte meine Fingernägel sehen! Ich hielt ihr meine Hände hin. Patsch! Das Lineal knallte auf meine Finger. Ich biss mir auf die Lippen, verkniff es mir zu schreien und zog meine Hände blitzschnell zurück, zum Glück ging sie weiter.
Die morgendlichen Regeln hatte ich schmerzlich verstanden. Pünktlich anwesend sein - und das mit sauberen Fingernägeln. Aber diese Art von Bestrafung nahm kein Ende. Ein paar Tage später kam ich die Treppe zu meiner Klasse hoch. Mister Omar, der Lehrer mit dem dunklen, verbitterten Gesicht, zerrte einen verängstigten Schüler aus der Parallelklasse gerade am Ohr in den Flur. Dann ging’s los. Der Junge musste sich hinhocken, seine Hände von hinten zwischen den Knien durchführen und sich dann an die Ohren greifen.
»Will you be disrespectful to me again?!«, schrie der Lehrer, holte weit aus und schlug dem Jungen mit einem Holzstock wuchtig auf den Po. »No, no, Mr. Omar, please, please!«, bettelte der. Aber der Lehrer prügelte so lange weiter, wie er es für
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