Das Mädchen, das nicht weinen durfte
riss seine Augen auf. Plötzlich zerrte jemand mit einem heftigen Ruck an mir, ich donnerte mit dem Rücken gegen den Schrank und fiel zu Boden. Dann schlug der Mann mit seiner rechten Hand auf meinen Vater ein, immer und immer wieder. Papa schrie, zog seine Beine an und trat den Mann mit voller Wucht in den Unterleib. Der Einbrecher fiel nach hinten, sprang wieder auf, flüchtete blitzschnell durch das Loch der Klimaanlage unten in der Wand. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Als ich wieder aufwachte, lag ich immer noch am Boden. Ich sah meine Mutter weinend am Bett meines Vaters. Meine Geschwister standen daneben und Chuchu kreischte. Papa lag in einer Blutlache, er hatte tiefe Schnittwunden und in seinem rechten Oberschenkel war ein Loch. Der Mann hatte mit einem Messer auf ihn eingestochen, aber Papa lebte. Ich brachte keinen Ton heraus, ich konnte nicht weinen, nichts. Dann stürmten die Nachbarn durch die Tür, auch Amir kam angerannt, blieb im Türrahmen mit großen Augen stehen. Es war laut, alle redeten durcheinander, nur sein Vater behielt die Ruhe, nahm das Betttuch und band es um Papas verwundetes Bein. Dann richtete er ihn auf, stützte ihn, half ihm durchs Haus bis zum Auto und fuhr ihn ins Krankenhaus. Papa hatte riesiges Glück gehabt. Und als er sich wieder erholt hatte, zogen wir endlich weg aus dieser Gegend in unser neues Haus, obwohl es noch nicht ganz fertig war, aber das war uns egal.
Die Faszination des Bürolebens - und wieder mal ein Umzug
Mein Vater nahm mich eines Tages mit zu seiner Arbeit, bevor er mich zur Schule brachte. Mit großen Augen schaute ich auf den großen Bürotrakt, als wir auf das Gelände fuhren.
»Ich lass das Auto auftanken, bevor wir reingehen.« Wir bogen rechts ab, um hinter das Bürogebäude zu fahren. Auf dem Gelände gab es eine kleine Tankstelle mit drei winzigen Zapfsäulen. Als Papa davor parkte, kam ein Mitarbeiter angelaufen.
»Guten Morgen! Wollen Sie auftanken?«
»Ja, bitte.« Mein Vater stieg aus dem Auto, schraubte die Tanköffnung auf und schaute dem Mann bei der Arbeit zu. Mit geübten Griffen nahm der sich einen dünnen, durchsichtigen, vergilbten Schlauch und steckte ihn in die Öffnung einer Tanksäule. Dann stellte er sich neben unseren Wagen und begann plötzlich am anderen Ende des Schlauchs zu saugen. So was hatte ich noch nie gesehen. Trank der jetzt das Benzin? Ich sah die gelbliche Flüssigkeit im Schlauch aufsteigen. Der Mann saugte noch kräftig weiter, seine Wangenknochen traten deutlich hervor. Igitt, der schluckte das wohl wirklich! Doch nein: Plötzlich riss er sich den Schlauch aus dem Mund, steckte ihn ihn mit einer schnellen Handbewegung in die Tanköffnung und das Benzin floss hinein.
Ich stand immer noch staunend neben ihm und starrte auf den Schlauch, den der Mann in der Hand hielt. Ganz cool lehnte er sich ans Auto und winkelte ein Bein an. Dann sah er rüber zu Papa.
»Und sonst, geht’s gut?« Er räusperte sich ein bisschen und spitzte seine Lippen einige Male, um Speichel und Benzingeschmack im Mund zu sammeln. Dann spuckte er auf den Boden. Papa machte sich überhaupt nichts daraus, er schien es gewohnt zu sein und war gerade dabei, den Kofferraum ein bisschen aufzuräumen.
»Ja, Gott sei Dank, uns geht es gut. Und Ihnen?« Ein anderes Auto kam vorgefahren. Es muss ein wichtiger Kollege gewesen sein, ich merkte es an Papas überschwänglicher Begrüßung: »Ich muss dir jemanden vorstellen! Das ist meine Tochter Khadra.« Er zeigte mit seiner Hand auf mich, wie ein Showmaster, der den Hauptgewinn präsentiert. Das machte er immer, wenn er mich jemandem vorstellen wollte, man spürte dann seinen Stolz, mich aber machte es manchmal verlegen.
Im Gebäude gingen wir durch einen langen Flur mit zahlreichen Büros rechts und links, aber wir liefen immer weiter bis ans Ende in einen Vorraum, wo eine Frau saß, Papas Sekretärin. Das Klacken ihrer Schreibmaschine war uns im Flur bereits entgegengeschallt. Sie schaute nur kurz auf, um uns zu begrüßen, dann schrieb sie konzentriert weiter und diktierte sich dabei flüsternd etwas. Ich starrte sie an, wie sie mit allen Fingern blitzschnell die Tasten fest nach unten drückte. Als die Schreibmaschine am Seitenrand anschlug, nahm sie einen Hebel und rückte in die nächste Zeile vor. Anfangs dachte ich, sie würde unkontrolliert auf die Tasten drücken, ich konnte mir nicht vorstellen, dass man so schnell schreiben kann. Der Lärm, das Tempo, der Rhythmus, die Finger, die
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