Das Mädchen, das nicht weinen durfte
ständig in Bewegung waren und am Ende etwas Sinnvolles zu Papier brachten, das alles faszinierte mich. »Willst du das auch lernen?«, fragte mich Papa, und ich nickte erfreut.
Unser Haus im Stadtteil Lido war noch nicht ganz fertig, als wir dort einzogen, aber trotzdem waren alle glücklich über das neue Heim, hier fühlten wir uns wohl. Ganz in der Nähe waren der Strand und das Meer, man musste nur ein kleines Stück auf der Straße laufen und eine weitere überqueren, schon hatte man den heißen Sand unter den Füßen. Für Jamal war es der schönste Ort der Welt, er wollte nirgendwo anders sein als am Strand. Morgens stand er in aller Frühe auf, noch bevor er für die Schule geweckt werden konnte, und lief dort hin. Erst Abends kam er dann wieder. Das machte er eine Zeit lang und wurde von der
Sonne ganz schwarz gebrannt und seine Härchen am Arm bleichten aus. Vor allem unsere Tanten waren entzückt, wenn sie zu Besuch kamen.
»Guck mal! Er hat blonde Haare wie ein Weißer!« Jamal fand auch schnell neue Freunde, welche Art Freunde, merkten wir erst, als er begann, üble Worte zu gebrauchen, die er zuvor nicht gekannt hatte. Außerdem sang er uns Volkslieder vor, die er von seinen Freunden beigebracht bekam, und trommelte dabei im Rhythmus auf seine Schenkel. Dass er die ganze Zeit die Schule schwänzte, bekamen meine Eltern eine Zeit lang gar nicht mit. Seine Freunde hatten noch nie eine Schule besucht, also hielt er es wohl auch für unwichtig. Als es dann endlich auffiel, bestrafte ihn mein Vater mit Hausarrest, aber Jamal fand immer wieder einen Weg, seine Freunde zu treffen und die Schule zu umgehen.
Neben dem Schlafzimmer meiner Eltern war mein Reich. Es waren zwei Zimmer, die ineinander übergingen, man musste erst durch ein kleines Vorzimmer und darin stand ein großer Schreibtisch. Mit einer Schreibmaschine! Davor stand ein Stuhl aus schwarzem Leder und an der Wand waren Regale und hohe Schränke mit großen Schubladen. Ich hatte mein eigenes Büro! Ich sortierte neben meinen Schulbüchern meine ganzen Habseligkeiten in die Aktenschränke, damit es auch wie ein Büro aussah. Kurz zuvor hatte ich meinen zehnten Geburtstag gefeiert und meine Schulkameraden hatten mir schöne Hefte, bunte Haarklammern und roten Nagellack geschenkt. Mein erwachsener Halbbruder Karim, der mit seiner deutschen Frau Isabell in Frankfurt lebte, hatte mir ein Paket geschickt, voller schöner Sachen, die ein Mädchen sich wünschen konnte: Farbstifte, eine Puppe, Süßigkeiten und eine Packung mit lila- und rosafarbenen Unterhosen, die mit kleinen Blümchen verziert waren. All diese Sachen fanden wunderbar Platz in meinen Büroschränken.
Ich freute mich so sehr über die schönen Geschenke aus Deutschland, dass ich mit meinem Vater noch am selben Tag
zum Strand fuhr, um für Karims Sohn, meinen Neffen Micha, eine afrikanische Trommel bei einem der Händler zu kaufen. Die hatte Micha sich sehnlichst gewünscht. Ein Bekannter nahm sie dann auf seine Reise nach Deutschland mit, leider hat er sie Micha nie gegeben.
Wenn ich am Bürofenster stand, konnte ich an die Blätter der Palmen greifen, und wenn ich meine Hand ganz ausstreckte, kam ich fast an die Kokosnüsse heran. Manchmal kam mich ein neuer Freund an diesem Fenster besuchen: Es war ein kleiner Pavian, der sich an die Fenstergitter klammerte, um sich etwas zu essen abzuholen. Ich gab ihm kleine Bananen, aber Tomaten mochte er auch ganz gern. Er saß mir dann gegenüber am Fensterrand und aß in aller Ruhe seine Mahlzeit. Danach verschwand er wieder.
Eines späten Nachmittags setzte ich mich an den Schreibtisch und betrachtete meine Schreibmaschine. Ich sah mir die Buchstaben an, die wild durcheinandergewürfelt schienen, weil sie nicht alphabetisch angeordnet waren, worüber ich mich wunderte. Das würde ja eine Ewigkeit dauern, bis ich hier die richtigen Buchstaben finden konnte … Aber ich wollte noch nicht aufgeben, Papas Sekretärin hatte es auch so gut hinbekommen und es sah bei ihr so einfach aus. Ich hatte noch genau vor Augen, wie ihre Finger im Takt die Tasten bedienten. Okay, ich würde es einfach mal so wie sie versuchen. Ich dehnte meine Finger und machte einen tiefen Atemzug. Ich würde erst einmal meinen Namen schreiben. Dann suchte ich das K und drückte die Taste, die schwer und tief zwischen den anderen Buchstaben versank. Es machte klack, das K war schwarz auf dem weißen Papier zu sehen. Der nächste Buchstabe sprang mir schon ins Auge. Ich
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