Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
hätte eine Biene sie gestochen. Sie blickt ihm scharf ins Gesicht. Das heißt, so scharf sie kann, denn ihre Augen sind kleine, schmerzende Schlitze geworden, und sie sieht nur noch einen wässrigen roten Nebel. »Ich möchte nur eins von dir wissen: Hast du was mit Peipei?«
»Ich liebe dich«, sagt er, und es klingt wie ein Eingeständnis. »Wir gehören doch zueinander.«
Mendys Beine zittern und wollen sie nicht mehr tragen. Sie hält sich am Tisch fest.
»Ich weiß, was du hören möchtest«, fährt der Mann fort. »Aber kannst du mich nicht verstehen? Natürlich bist du für mich der wichtigste Mensch, aber …«
Wie ein flüchtiges Reh hastet Mendy zur Tür. »Komm mir nicht zu nah. Wir sollten uns nicht wiedersehen.« Sie stürmt durch den Korridor und flieht aus der Wohnung. Erst als sie den offenen Berliner Himmel wieder über dem Kopf hat, kommt sie zur Besinnung. Sie presst ihre Faust an die Brust, um ihre Verzweiflung zu unterdrücken. Dass Sex ein so grausames Messer sein könnte, hat sie sich nie vorgestellt.
Kapitel 11
Ein rohes Ei
Nach dem Abschied von Oswald wird Mendy krank. Glühend heiß liegt sie im Bett und spricht im Delirium. Yeye ist verzweifelt, sie rennt zwischen der Stieftochter und dem Ehemann hin und her und weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Schließlich ruft sie Mendys beste Freundin Yulin an. Yulin ist immer noch mit ihren Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt und hat die neueste Entwicklung gar nicht mitbekommen. Aber als sie von Mendys Zustand erfährt, kommt sie sofort.
Nach ein paar Tagen fachkundiger Pflege geht das Fieber zurück, und Mendys Gesicht bekommt allmählich auch wieder Farbe. Nur die Augen haben an Glanz und Kraft eingebüßt. Irgendetwas ist ihr abhandengekommen.
Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus scheint auch Boss Guan ein anderer geworden zu sein. Früher war er dauernd unterwegs, jetzt sitzt er in seinem Sonnenzimmer herum und macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Yeye ist ratlos und ermahnt Mendy, sie solle sich mehr um den Vater kümmern.
Mendy vermutet, dass der Vater unter Depressionen leidet, seit er in China war, und versucht es mit einer Beschäftigungstherapie. Sie bringt ihm Kataloge von Möbelhäusern und fragt, welche Tische und Stühle fürdie neue Innenausstattung des Restaurants bestellt werden sollen. Denn die Renovierung ist inzwischen fast abgeschlossen. Aber der Vater schiebt die Kataloge beiseite und meint, er werde später reinschauen, momentan habe er anderes zu erledigen. Dann schickt er die Tochter aus seinem Büro.
Zum Mittagsessen kommt er nicht in die Wohnung herüber, zum Abendessen auch nicht. Yeye meint, er müsse doch was essen, und kommt persönlich, um den Ehemann zum Abendessen zu holen. Aber der Mann schickt sie fort und macht dafür nicht einmal die Tür auf. Nach einer Weile schickt Yeye den Sohn herüber. Die kindliche Stimme scheint zu wirken. Kurz danach sitzt die Familie vereint um den Tisch. Seitdem ist es immer der Sohn, der den Vater nach Hause holt.
Eine Woche später sitzt Boss Guan im Sonnenzimmer und starrt die Kastanie vor seinem Fenster an. Der Baum ist groß und hat eine prächtige Krone, sodass der Hof wie unter einem riesigen Schirm steht. In der Dämmerung sehen die zartgrünen Blätter aus wie mit Tinte gestrichen.
An Boss Guan nagt das Gefühl, dass er einen großen Fehler gemacht hat. Die erfolgreichen Jahre und das vom Gesetz geregelte Leben in Deutschland haben dazu geführt, dass er sein Misstrauen und seine Wachsamkeit eingebüßt hat. Er ist sich jetzt sicher, dass hinter dem Brand ein gefährlicher Gegner steckt. Der Brand, der Verlust von Peipei … irgendwer ist dabei, alles an sich zu reißen. Er muss ihn finden und unschädlich machen, wenn er nicht untergehen will.
Wie kann ich die Schlange aus der Höhle hervorlocken?, fragt sich Boss Guan, aber er weiß, das sind leere Worte, er hat nicht mehr die Kraft wie früher. Nach zweiundzwanzig Jahren in Deutschland muss er gestehen, dass er kein echter Chinese mehr ist. Das chinesische Denken strengt ihn an. Und die chinesischen Strategien, die er früher beherrschte, sind ihm abhandengekommen. Müde reibt er sich die Augen und starrt in den Baum. Was ist das da draußen? Ein Vogel, ein tickendes Uhrwerk? Ist seine Zeit abgelaufen? In diesem Augenblick klopft es.
Er denkt, es wäre sein Sohn. Aber als er die Tür öffnet, steht Peipei vor ihm. Sie trägt jetzt gelocktes hellbraunes Haar und hat so schwarze Ringe
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