Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
heute, wenn das atmende Tier wieder anruft? Ihr rechtes Lid zuckt jetzt schon den ganzen Tag. Soll das eine Warnung sein? Wovor? Vor ihrer eigenen Wohnung? Sie hat sowieso keine Lust, allein zu Hause zu hocken und über dunkle Dinge zu grübeln. Da bleibt sie lieber draußen in der warmen Frühlingsluft.
Am liebsten hätte sie ein paar Stunden mit Boss Hong verbracht. Der Goldene Drache ist der Mann, der ihr den nötigen Schutz bieten und ihre Träume verwirklichen kann. Erst heute hat sie wieder zwei Ladenlokale besichtigt, doch die Gegend hat ihr für ihreBoutique nicht so richtig gefallen. Enttäuscht fährt sie zur Uni, trifft auf der Wiese einige Mitglieder ihrer erotisch-historischen China-Gesellschaft und schmiedet dabei Pläne für eine Party, bei der sie neue Mitglieder werben will. Das bessert ihre Laune erheblich. Sie räkelt sich auf dem Rasen, bis im Westen die Sonne untergeht. Aber ihr von der Sonne erhitzter Körper lässt ihre Gedanken erst recht um den Goldenen Drachen kreisen. So entscheidet sie, auf gut Glück zu ihrem Gönner zu fahren.
Doch das Glück scheint sich nicht einzustellen. Genau wie gestern und vorgestern kommt keine Reaktion aus der Wohnung am Bundesratsufer, egal wie lange und fest sie die elegante, namenlose Klingeltaste am Tor drückt. Anscheinend treibt der Mann sich irgendwo draußen herum. Doch gerade daran hat Peipei ihre Zweifel. Seit Boss Guan sich vor ihrer Tür mit Oswald geprügelt hat und anschließend ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, ist die Leitung zum Goldenen Drachen so gut wie tot. Plötzlich lässt er sich weder blicken noch von sich hören. Hat sie ihn endlich einmal am Hörer, ist der Mann schrecklich beschäftigt. Kaum hat sie sich gemeldet und einen Satz in die Sprechmuschel gehaucht, muss er das Gespräch auch schon abbrechen.
Hat sie etwas falsch gemacht? Er hat sich doch anfangs ganz übermäßig gefreut, als sie ihm sagte, ihre Periode sei ausgeblieben. Er hat sie so zärtlich berührt, als wäre sie ein frisch geborenes Baby. Sie war so entzückt, dass ein Liebhaber dermaßen fürsorglich und zärtlich sein kann. Als sie am nächsten Morgen seineWohnung verlassen wollte, hat er ihr einen großen Scheck in die Tasche gesteckt. Das hat sie so gerührt, dass sie ihn umarmte und gleich noch einmal ins Bett zog. Es war keine leichte Arbeit, dem nicht mehr ganz jungen Mann zum zweiten Mal in kurzer Zeit volle Befriedigung zu verschaffen. Aber sie hat es geschafft. Am Ende lag er auf dem Rücken und fletschte recht glücklich die Zähne.
Doch seither scheint er ihr aus dem Weg zu gehen. Hat er irgendwelche Gerüchte gehört? Es gibt genug Landsleute in der Stadt, die sich gern ihr Maul über unkonventionelle Frauen zerreißen. Wenn sie nur mit ihm reden könnte! Aber heute lässt sich wieder nichts machen.
Was soll sie jetzt tun? Nach Hause will sie auf keinen Fall. Sie zieht das Handy heraus und wählt Oswalds Nummer. Der ist mit Freunden unterwegs. Heute Abend wollen sie zu einem Jazzkonzert in die Kulturbrauerei gehen. Wenn Peipei Lust hat, kann sie sich gern anschließen.
Peipei fährt zur Kulturbrauerei, trifft dort Oswald und lernt zwei Musikerfreunde von ihm kennen. Aber als sie das Kesselhaus wieder verlassen, stellt sich heraus, dass Peipei nicht mit zu Oswald gehen kann, weil die Freunde von auswärts kommen und bei ihm übernachten.
Es ist kurz nach elf. Peipei verabschiedet sich von den Männern. Danach fährt sie immer noch nicht nach Hause, sondern wieder zum Bundesratsufer. Sie will sich vergewissern, ob der Verdacht, dass Boss Hong ihr aus dem Weg geht, berechtigt ist oder nicht.Als sie das Licht sieht, das durch seine Fenster in die Nacht fällt, schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Sie trippelt zu seiner Haustür und klingelt Sturm. Keine Reaktion. Was soll das bedeuten? Er ist doch offensichtlich zu Hause! Sie klingelt erneut und setzt auch das Handy noch einmal ein. Keine Reaktion!
Er hat eine andere! Und die sitzt jetzt gerade auf seinem Schoß. Diese Vermutung schießt ihr durch den Kopf und macht sie wütend und ohnmächtig. Sie ahnt nicht, dass die Wohnung des Goldenen Drachen von Dutzenden Kameras und einem Computer überwacht wird. Ihr Klingeln ist in der Wohnung gar nicht zu hören, nur Himmelsstachel nimmt es zur Kenntnis. Boss Hong hat gesagt, dass er nicht gestört werden möchte.
Peipei steht immer noch auf der Straße. Soll sie bei Nachbarn klingeln, um sich bis zur Wohnungstür des Goldenen Drachen zu mogeln?
Weitere Kostenlose Bücher