Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
jetzt einem anderen, und er hat in dieser Stadt nichts mehr zu hoffen. Bald wird er nach Potsdam zurückkehren müssen. Jetzt ist er wieder auf der Durchreise und hat auch kein Ziel mehr. Wo ist das Stückchen Erde, auf dem er kein »Asylbewerber«, sondern ein Mensch und ein Mann ist? Ein Mann, der eine Frau gewinnt, eine Familie gründet und sie durch Fleiß und Ehrlichkeit zum Gedeihen bringt. Ein ganz gewöhnlicher Mann. Aber nicht einmal das schafft er. Er läuft noch schneller, um seine Tränen zu unterdrücken.
In der Knesebeckstraße angekommen, sieht er zuerst Mendys rote Pumps auf dem Flur. Er nimmt sie in die Hand, betrachtet sie eingehend und schnuppert sogar daran. Der Anblick lässt einen Schimmer Hoffnung in seinen Augen aufleuchten. Leise betritt er das verdunkelte Zimmer. Durch einen Spalt im Vorhang vor Mendys Bett nimmt er die Wölbung der Decke wahr. Also ist sie zu Hause! Sie schläft nicht, wie Yeyes Worte haben vermuten lassen, in einem fremden Bett.
Sein Herz hüpft und möchte am liebsten singen. Doch er beherrscht sich und schleicht sich zu seinem Sofa. Als er sich gerade hinlegen will, merkt er, dass mit Mendy etwas nicht stimmt. Er hält den Atem anund horcht. Dann weiß er, was los ist: Mendy hat die Decke über den Kopf gezogen und erstickt fast an einem schrecklichen, tonlosen Schluchzen.
Wie übergossen von Eiswasser bleibt Tubai reglos stehen. Eine dunkle Ahnung überkommt ihn und schnürt ihm die Brust zu.
»Mendy?«, ruft er leise.
Keine Antwort.
Er nähert sich Mendys Bett. Zum ersten Mal schiebt er den Vorhang ein Stückchen beiseite und späht hinein. Die Bettdecke rührt sich nicht. Nur eine schwarze Haarsträhne, die darunter hervorlugt, verrät die Anwesenheit der geliebten Frau. Tubai kniet sich vor dem Bett auf den Boden. »Mendy, sag mir, wer dich schlecht behandelt hat. Ich bin dein Bruder. Ich werde alles tun, damit du nicht weinen musst.«
Als wäre bei Mendy ein Damm gebrochen, beginnt sie plötzlich unter der Decke zu zittern und laut zu weinen. Vorsichtig schlägt Tubai die Decke ein Stückchen zurück. Was er sieht, lässt sein Herz stillstehen. Mendys Lippen sind geplatzt, ihre linke Gesichtshälfte ist bis zum Auge geschwollen. Ihr Hals ist voller tiefroter Blutergüsse und Bissspuren. Was sich ihm bietet, ist der Anblick einer gedemütigten Frau, an der ein Mann sich rücksichtslos ausgetobt hat. Tubai hat das fürchterliche Gefühl, als würde sein Kopf explodieren. Er presst die Fäuste an seine Schläfen, um sich zu beherrschen.
»Sag mir, welches Ungeheuer dir das angetan hat!«, fordert er mit halb erstickter Stimme.
Aber Mendy sagt nichts. Sie bedeckt das Gesichtmit dem Arm, presst die zerbissenen Lippen zusammen und schweigt. Dabei gibt sie ihr am Hals zerrissenes Qipao -Kleid dem Blick preis. Offensichtlich hat sie sich gar nicht erst ausgezogen, als sie nach Hause kam.
Tubai ballt die Fäuste. Gestern Nacht hätte er für seine Schwester da sein sollen. Aber stattdessen hat er sich zum Wachhund für die Frau von Boss Guan gemacht.
»Ich bin ein Narr. Ich hab dich ans Messer geliefert.« Er kramt ein Taschentuch aus der Tasche und wischt Mendy vorsichtig die Tränen ab, die aus den geschlossenen Augen ins wirre Haar rollen. »Schlag mich, Mendy. Ich hab es verdient.«
Da greift sie plötzlich nach seiner Hand und drückt sie an ihre Wange. Die Hitze, die von ihr ausgeht, lässt ihn zusammenzucken.
»Liebst du mich?«, fragt sie mit heiserer Stimme. Sie muss lange geweint haben. Nur zischende Luftzüge dringen aus ihrem Mund.
Schüchternheit überfällt den Mann, während sein Herz bis zum Hals schlägt. Er braucht eine Weile, bis er ein leises »Ja« zustande bringt.
Kaum hat er die Silbe herausbracht, nimmt sie seine Hand und legt sie auf ihre Brust. »Dann liebe mich jetzt. Auf der Stelle.«
Wie von einer glühenden Flamme versengt, zieht er rasch seine Hand zurück. »Du bist brennend heiß. Ich glaube, du hast Fieber – du bist dabei, krank zu werden.«
»Verachtest du mich?«, platzt es aus Mendy heraus.
»Nein, wie könnte ich? Selbst wenn ich meine beiden Arme verlieren muss, werde ich mich von nichts und niemandem zwingen lassen, dich zu verachten. Niemals.«
»Dann liebe mich jetzt und hier. Wenn du jetzt Nein sagst, bekommst du mich im Leben nie wieder.« Sie sieht immer noch verwüstet und traurig aus, doch es gibt einen schwachen Schimmer auf ihrem Gesicht, als mache sie sich wieder Hoffnungen. Ihre zerbissenen, leicht
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