Das Mädchen in den Wellen
noch kein Licht; das würde erst später angehen und hoffentlich auch in den folgenden Tagen. Das Häuschen hatte zu lange leer gestanden.
Ihre Urgroßeltern hatten zur ersten Welle von Einwanderern gehört, die nach einem kurzen Aufenthalt in den Steinbrüchen von Massachusetts auf Burke’s Island Wurzeln schlugen. Sie hatten, abgesehen von den wenigen Habseligkeiten, die sie tragen konnten, und den Geschichten und Mythen jenes Teils von Donegal, aus dem sie stammten, nur wenig auf die Seelenverkäufer mitgenommen. Das tiefe Wissen nannten sie das. Das Träumen. Sie hatten das Cottage im Stil der Katen in der Heimat errichtet, aus gehauenem Granit. Knochenarbeit, aber das Cottage gehörte ihnen. Ihr erstes echtes Grundeigentum. Das Cottage hatte sie beherbergt, bis sie Jahre später genug Mittel besaßen, Cliff House zu bauen, und das Cottage war der Maßstab geblieben. Die bescheidene Behausung hatte allen Stürmen getrotzt. Ein keltischer Seedrache, ins Holz über der Tür geschnitzt, zeugte von Kraft und Durchhaltevermögen der Bewohner.
Jetzt war das Dach mit Kieseln, nicht mehr mit Torf gedeckt und der Drache so verwittert, dass man ihn kaum noch erkennen konnte. Man musste schon wissen, dass er sich dort befand. Nachdem Maeve und Patrick in das Cottage gezogen waren, hatte er das Innere auf Vordermann gebracht, die Schränke und anderen Holzmöbel selbst geschreinert. Er war der ruhige Gegenpol zu Maires impulsiver Schwester gewesen. Maire, zwei Jahre jünger als Maeve und damals ohne Partner, hatte sie regelmäßig mit Körben voller Gemüse und Obst aus dem Garten von Cliff House besucht. Sie erinnerte sich an Patricks kräftige, aber auch sensible und schlanke Finger, die bedächtig und sicher schmirgelten und glätteten, Kanten und Ecken miteinander verbanden und die Maserung polierten, bis sie glänzte.
An jenem Morgen regte sich nichts im Cottage. Nora schlief wohl noch, die Vorhänge waren zugezogen; nur die Lerchen flatterten schon auf der Suche nach Futter über die frühmorgendlichen Wiesen. Maire hatte in der Zeitung ein Bild ihrer Nichte gesehen. (Polly hatte ihr das Blatt gezeigt und versprochen, Stillschweigen darüber zu bewahren. Trotz ihrer Klatschsucht konnte man sich auf sie verlassen.) Auf dem Foto verbarg Nora ihr Gesicht halb vor den Kameras. Offenbar hatte die Affäre schon, Monate bevor alles ans Licht gekommen war, begonnen. Wie lange hatte Nora von der Sache gewusst, die eigentlich geheim hätte bleiben sollen, jedoch publik geworden war wegen der gesellschaftlichen Position ihres Mannes als neuer Stern am Himmel der Partei? Maire fiel es schwer, sich vorzustellen, was Nora durchgemacht hatte – und wahrscheinlich immer noch durchlitt. Ob Malcolm mitgekommen war? Und die Kinder. Sie nahm an, dass Kinder existierten; sicher wusste sie es nicht. Die Artikel hatten keine erwähnt und sich ausschließlich auf Nora, Malcolm und die andere Frau bezogen.
Maire hatte vorgehabt, sich nach der schwierigen Geburt ein paar Stunden auszuruhen, doch die Aufregung über Noras Ankunft machte Schlaf unmöglich. Sie fuhr nach Hause; die Reifen ihres Trucks wirbelten Muschelstücke von der Straße auf. Als Erstes würde sie Rhabarbermuffins backen und sie ihrer Nichte in einem Korb mit einem Glas Inselhonig von den Bienenstöcken im Obstgarten auf die Veranda stellen. Die Rhabarberpflanzen wuchsen auf der südlichen Seite des Hauses, am Steinfundament, hinter dem großen Garten. Maire wählte die schönsten Stängel aus, nahm nur die, die sich leicht herausziehen ließen, drehte die Blätter mit einer kräftigen Drehung des Handgelenks ab und warf sie auf den Komposthaufen. Außer Rhabarber brauchte sie noch braunen Zucker, Öl, Mehl, Eier, Buttermilch, Backpulver – und fertig. Wenn nur alles so einfach gewesen wäre.
Als sie die Küchentür öffnete, hörte sie vom Pier ein Platschen. Wahrscheinlich ein Seehund. Sie hätte schwören mögen, dass sie etwas Silbernes gesehen hatte. So lange sie sich erinnern konnte, hatte es keine silberfarbenen Seehunde mehr in den Gewässern rund um die Insel gegeben, obwohl die Leute noch voller Ehrfurcht von ihnen sprachen. Aber es war fast Mittsommer, und zur Sommersonnenwende war in dieser Gegend alles möglich.
Mittsommer, die Zeit, in der ihre Schwester verschwunden war.
Nora sah aus wie sie. Wie Maeve. Mit ein bisschen weniger Flirtpotenzial, von dem Maeve auch nach ihrer Heirat noch mehr als genug besessen hatte. Das war ein wesentlicher Teil ihres
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