Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
fragte Agnès besorgt.
Doch Madeleine brachte kein Wort heraus. Sie hörte die jubeln den Menschen um sich herum und blickte zur Brücke, die unbeschadet über den Fluss führte. Nichts erinnerte an das furchtbare Szenario, das sie eben noch gesehen hatte. Die Vorhut der Garden ritt inzwischen an ihnen vorbei auf die Brücke zu. Sie mussten den Fluss überqueren, um weiter nach Bar-le-Duc zu kommen … Und plötzlich wusste Madeleine, dass es passieren würde. Ein heftiger Schwindel überkam sie, der so stark war, dass sie fürchtete, die Besinnung zu verlieren.
»Madeleine!«
Ihr Herz raste. Mit einem Ruck wurde sie zurück in die Wirklichkeit gerissen. Sie fuhr zu Agnès herum, die sie entsetzt anstarrte.
»Mein Gott, was ist denn bloß mit dir? Du bist ja ganz weiß und zitterst!«
»Die Brücke, sie wird einstürzen!«, stieß Madeleine angsterfüllt hervor.
Agnès schaute sie verständnislos an. »Was redest du denn da?«
Doch Madeleine hatte keine Zeit, denn sie erkannte, dass sich die ersten Reiter der Garden bereits anschickten, die Brücke zu überqueren.
»Nein, nicht!« Ihr gellender Ruf ließ die Menschen vor ihnen überrascht herumfahren. Madeleine ließ ihren Korb fallen und war mit einem Satz von der Mauer gesprungen. Wie von Sinnen stürzte sie zwischen den Leuten durch.
»Nicht! Bleiben Sie stehen!« Verzweifelt versuchte sie, sich dem Reisezug, der sich wegen der Vielzahl der Menschen und Reiter vor der Brücke staute, in den Weg zu stellen.
Ein Pferd scheute. »Weg da, Mädchen!«, herrschte ein Offizier der Leibgarden sie an. Er bemühte sich, sie mit dem Pferd zur Seite zu drängen, doch das Tier tänzelte nervös auf der Stelle und brachte den Tross dahinter zum Halten.
»Nein, nicht! Sie dürfen nicht weiterreiten.«
Doch der Offizier hörte ihr gar nicht zu. »Aus dem Weg, habe ich gesagt!« Aufgebracht über ihr dreistes Verhalten, schlug er mit seiner Reitgerte nach ihr. Madeleine versuchte schützend ihren Arm vor das Gesicht zu nehmen. Die Hiebe trafen sie schmerzhaft an der Hand und hinterließen rote Striemen auf ihrer hellen Haut.
»Würden Sie die Güte haben, das Mädchen in Ruhe zu lassen, Monsieur!« Ein Knabe, der kaum älter als zehn oder elf Jahre alt sein konnte, hatte seinen Rappen neben dem Offizier zum Stehen gebracht. Er war schlicht gekleidet, doch sein Mantel, der aufwendig bestickt war, zeigte ebenso wie die Art, in der er sprach, dass er von Rang sein musste. Der Offizier ließ mit zusammengebissenen Lippen die Gerte sinken. »Sie versperrt uns den Weg!« Erneut trieb er sein Pferd an, und endlich gelang es ihm, sich an Madeleine vorbeizudrängen.
»So hören Sie mir doch zu. Sie dürfen nicht weiter. Die Brücke – sie wird einstürzen!«, rief sie ihm hinterher.
Der Junge blickte sie erstaunt an. Trotz seiner kindlichen Gesichtszüge zeigte sich in seinen Augen bereits ein ungewöhnlich erwachsener Ernst.
Sein Gesicht kommt mir bekannt vor, dachte Madeleine, als sie eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Uferseite dazu brachte, den Kopf zu wenden.
Sie erstarrte – der Fuhrwagen vor der Mühle war umgekippt. Ein Mann daneben war gestürzt, und ein großer, dunkler Ge genstand, der immer schneller und schneller wurde, rollte den Abhang hinunter – genau auf die Brücke zu. Es war der Mühlstein!
Madeleine spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte.
Der Junge hatte es auch gesehen. »O Gott, nein!« Sein Gesicht war blass geworden. Dann sprang er in seinen Steigbügeln hoch. »Zurück!«, schrie er den Männern zu, die sich bereits auf der Brücke befanden.
Doch es war zu spät, im selben Moment donnerte der Mühlstein auch schon mit geballter Kraft gegen einen der Pfeiler. Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von dem Geräusch berstenden, splitternden Holzes war zu hören. Menschen schrien auf, als der Pfeiler in sich zusammensackte wie ein umgeknickter Grashalm. Und dann wurde der Albtraum Wirklichkeit. Die Brücke krachte in sich zusammen und riss die Reiter und Männer, die sich auf ihr befanden, mit in die Tiefe des Flusses. Madeleine wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was sie sah, war das entgeisterte Gesicht des Knaben, und plötzlich wusste sie, woher sie ihn kannte. Er war der Junge, den sie im Fluss hatte untergehen sehen. Dann verlor sie auch schon die Besinnung.
2
E twas Kühles auf ihrer Stirn brachte sie wieder zu Bewusstsein. Wo war sie? Sie konnte sich nicht daran erinnern, was geschehen war. Ein Mann mit einer weiß
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