Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
gefächelten Halskrause gab ihr aus einem Becher einen Schluck Wasser zu trinken. Fremde Menschen standen um sie herum, und sie war dankbar, dass sie zwischen ihnen wenigstens ein vertrautes Gesicht entdecken konnte. Es war Agnès, die sie besorgt anblickte.
»Was ist passiert?«, fragte sie verwirrt.
»Die Brücke ist eingestürzt, und du bist ohnmächtig geworden. Du warst eine ganze Weile nicht bei Bewusstsein, Madeleine«, erwiderte Agnès.
Madeleine? Selbst der Klang ihres eigenen Namens schien ihr im ersten Moment fremd. Sie fühlte sich seltsam losgelöst von allem. »Welche Brücke?«, fragte sie.
Agnès schaute sie betroffen an. »Das weißt du nicht mehr? Aber du hast doch das Unglück vor allen anderen gesehen!« Es klang, als läge ein versteckter Vorwurf in ihren Worten.
Madeleine schüttelte hilflos den Kopf. Eine schreckliche Furcht begann sie zu ergreifen. Was war nur los? Warum konnte sie sich nicht entsinnen, was geschehen war?
Der Mann, der ihr den Becher gereicht hatte, betrachtete die roten Striemen auf ihren Händen, die die Reitgerte des Offiziers hinterlassen hatte. Er tätschelte ihren Arm. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass man sich nach einer Ohnmacht nicht erinnert, was geschehen ist«, sagte er. Ein warmer Ausdruck zeigte sich in seinem Gesicht, das ein spitzer Bart zierte. »Ich bin Ambroise Paré, Chirurg Seiner Majestät!«, stellte er sich vor.
Chirurg Seiner Majestät?
»Der Reisetross des Königs, wir haben ihnen doch zugeschaut …«, sagte Agnès in dem Versuch, ihrer Erinnerung wie der auf die Sprünge zu helfen.
Vage regte sich etwas in Madeleine. Der königliche Zug! Sie richtete sich etwas auf. Sie war auf dem Rückweg vom Krämer Boudin gewesen, entsann sie sich. Doch was war mit der Brücke geschehen? Sie bemühte sich, die verworrenen Bilder in ihrem Kopf zu ordnen. Der Junge … Plötzlich sah sie wieder sein Gesicht vor sich. Mit einem Schlag war wieder alles gegenwärtig. Sie hatte es vorhergesehen! Langsam drehte sie sich zum Wasser. Voller Grauen blickte sie auf die Überbleibsel der Brücke. Holzteile und Gegenstände trieben im Wasser. Am Ufer hatten Solda ten mithilfe von langen Holzstangen und Seilen die Verletzten aus dem Fluss gezogen. Nur ein Pferd wehrte sich in seiner Todesangst noch immer gegen die Rettungsversuche der Männer. Überall rannten Menschen herum.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Agnès noch einmal besorgt.
Madeleine nickte. »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder«, sagte sie tonlos. Sie hatte Angst. Wie hatte sie das Unglück nur vorhersehen können?
»Monsieur Paré?« Ein Soldat tauchte außer Atem neben dem Chirurgen auf. »Schnell, man braucht Eure Hilfe. Da ist ein junger Mann, sie haben ihn mit dem Boot von der Mühle herübergebracht. Er stand neben dem Fuhrwagen. Dem armen Kerl ist das Bein von dem Mühlrad zerquetscht worden.«
Ein Bild blitzte vor Madeleines Augen auf, und sie hörte plötzlich wieder den entsetzlichen Schrei.
Der Chirurg hatte währenddessen eilig nach seinen Sachen gegriffen und folgte dem Soldaten. Sie schaute ihm hinterher, wie er zwischen den Menschen verschwand, dann drehte sie sich zu Agnès.
»Die Menschen, die auf der Brücke waren, was ist mit ihnen geschehen?«, fragte sie tonlos.
»Die Soldaten sagen, dass es einige Verletzte gab und zwei tote Pferde. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert«, sagte Agnès.
Madeleines Knie zitterten, als sie versuchte aufzustehen. In diesem Moment bemerkte sie, dass die Leute um sie herum zur Seite wichen, um der hochgewachsenen Gestalt eines Mannes Platz zu machen.
»Das ist das Mädchen!«, sagte er mit tiefer Stimme. Es war der Offizier, dem Madeleine sich vor der Brücke in den Weg gestellt hatte. Seine Kleidung war nass, und er hatte eine Schürfwunde auf der Wange. Zwei Wachen standen neben ihm. »Nehmt sie mit!«, befahl er den beiden Männern.
3
D as Ufer des Flusses war von Menschen bevölkert, so weit man schauen konnte. Sänften und Fuhrwagen wurden ausgespannt, Pferde und Lastesel getränkt, Feuer entzündet und Zelte und Lager aufgeschlagen, da die eingestürzte Brücke eine Weiterreise vorerst unmöglich machte. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte Madeleine so viele Menschen gesehen. Unter anderen Umständen hätte sie jede Einzelheit dieses Anblicks begeistert aufgenommen, doch jetzt wünschte sie sich einfach nur weit weg. Wäre sie bloß nie hierhergekommen! Benommen lief sie neben den Wa chen her.
Sie erkannte, dass sie auf ein
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