Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
wiederfinden und sich auf den Weg nach Hause machen.
4
M it einer tiefen Verbeugung reichte der Diener der Königin mutter einen Becher Wein, bevor er sich wieder zurückzog. Cathe rine de Medici betrachtete nachdenklich die dunkelrote Flüssigkeit in dem goldenen Gefäß. Ihre Gedanken weilten noch immer bei dem jungen Mädchen, das man vorhin zu ihr gebracht hatte. Sie sah ihr schmales Gesicht mit den blaugrauen Augen und dem kastanienfarbenen Haar vor sich. Ein unscheinbares Ding im grauen Kleid. Dabei hatten ihre Züge und die helle Haut durchaus etwas Anmutiges gehabt, musste sie zugeben. Jung genug, dass man ihr die Entbehrungen ihres Standes noch nicht ansah, aber eigentlich nicht wert, sich näher mit ihr zu beschäftigen, dachte sie. Doch anscheinend besaß sie besondere Fähigkeiten. Welch ein Jammer, dass sie diese nicht eingestehen wollte. Catherine de Medici wandte sich mit dem Becher in der Hand zu dem Mann, der schweigend im Hintergrund wartete. Die anderen Höf linge waren längst gegangen, und sie hatte auch ihre Zwergin und Diener hinausgeschickt, um mit Pierre Lebrun, ihrem Geheim dienst chef, allein zu sein.
»Und was denkt Ihr, hat dieses Mädchen gelogen?«, fragte sie.
»Ja, eindeutig, Euer Majestät!« Lebrun nickte. Wie immer ließ sein Gesicht mit den dunklen Augenschatten nur schwer erraten, was er wirklich dachte, doch sie wusste auch so, dass er genug Verhöre geführt hatte, um an der geringsten Regung eines Ge sichts zu erkennen, ob jemand die Wahrheit sagte.
»Wobei mich das nicht sonderlich erstaunt, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt«, fügte Lebrun hinzu. »Sollte dieses Mädchen tatsächlich so etwas wie eine Vorahnung gehabt haben, könnte es sich schnell dem Verdacht der Hexerei ausgesetzt sehen.«
»Sicher«, erwiderte die Medici spitz. Sie ließ den Wein in ihrem Becher kreisen. »In diesem Land hält man ja selbst die Wissenschaft der Astrologie noch für übernatürliche Zauberei«, sagte sie. Aus ihren Worten klang nur zu deutlich die Arroganz der Italienerin, die sich der Überlegenheit ihrer heimatlichen Kultur bewusst war.
»Glaubt Ihr, dass dieser Unfall mit dem Mühlrad wirklich nur ein unglücklicher Zufall war?«, fragte sie dann.
»Ihr meint, ob etwas anderes dahinterstecken könnte? Ein Anschlag etwa?«, erwiderte Lebrun.
»Ja.« Sie nickte. Die Überlegung war durchaus gerechtfertigt, denn die politische Situation war angespannt. Der Friede von Amboise hatte den Bürgerkrieg mit den Hugenotten zwar zum Stillstand gebracht, doch die Medici machte sich keine Illusionen; weder die Protestanten noch das erzkatholische Lager um die Herzogsfamilie Guise-Lorraine würden sich damit lange zufriedengeben. Das Feuer war gelöscht, aber unter ihrer aller Füße schwelte noch immer die Glut, und der kleinste Vorfall konnte er neut einen Brand entfachen. Nachdenklich trank sie einen Schluck. Sie wusste, dass die Guise nach Rache lechzten. Im letzten Jahr war ihr Familienoberhaupt, der Herzog de Guise, bei einem Attentat durch einen Hugenotten ums Leben gekommen, und ungeachtet der Tatsache, dass man den Mörder hingerichtet hatte, verlangte die Familie nun die Verurteilung des protestantischen Anführers, des Admirals de Coligny. Sie beschuldigten ihn, der Auftraggeber des Anschlags gewesen zu sein. Obgleich Catherine de Medici, wie die Guise, Katholikin war, hielt sie diese Anschul digung für mehr als abwegig – es passte einfach nicht zu Colignys Persönlichkeit, eine solche Tat zu begehen. Sehr viel wahrscheinlicher schien es ihr dagegen, dass die Guise hofften, sich auf diese Weise eines unliebsamen Gegners zu entledigen, um ihre Macht zu stärken. Nun, Gott sei Dank würde ein Gericht darüber entscheiden, ob Coligny schuldig oder unschuldig war.
»Mit Verlaub, wenn Ihr auf die Guise anspielt, das glaube ich nicht, Euer Majestät«, sagte Lebrun, der sie gut genug kannte, um zu ahnen, was in ihr vorging. »Einen Moment lang habe ich das auch überlegt, aber ich bin mir sicher, sie wissen die Ehre zu schätzen, dass Ihr zu der Taufe kommt.«
»Das hoffe ich!«, erwiderte sie und stellte ihren Wein ab. Die Medici griff nach einem Stück Mandelnougat, das in einer Schale auf dem Tisch stand. Sie konnte dieser Süßigkeit einfach nicht widerstehen.
Ein unmutiger Seufzer entrang sich ihren Lippen. Wie gern hätte sie auf die Teilnahme an dieser Taufe verzichtet. Nicht ein mal die Aussicht, ihre Tochter Claude wiederzusehen, die die Mutter des Täuflings war,
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